Erste Sequenz: Kontaktaufnahme
Die Sozialpädagogin hört, wie die Klientin darin laut weint. Sie klopft an die Tür des Mädchenbads, um sich bemerkbar zu machen und bittet die Klientin mit sanfter Stimme, die Türe zu öffnen und ihr Einlass zu gewähren. Als nach mehrfacher Aufforderung nichts geschieht, kündigt die Sozialpädagogin an, sich nun selbst Zutritt zu verschaffen. Mit einem Werkzeug kann sie die verschlossene Türe von Aussen öffnen. Sie findet die Klientin in kauernder Haltung auf dem Toilettensitz. Sie geht zu ihr, legt ihr sachte die Hand auf den Arm und fragt nach, was geschehen ist. Die Klientin nimmt die Berührung an, kann aber vor lauter Schluchzen nur sagen, dass ihr alles zu viel werde.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Wirkt verzweifelt, ins sich gekehrt; weint laut; Augen sind verquollen und Kopf ist auf Knie gestützt.
- Emotion Professionelle/r: Besorgt; nach Eintritt ins Bad erleichtert, dass sich Klientin nicht selbst verletzt hat
- Kognition Professionelle/r: Zaghafte und langsame Bewegungen; durch körperliche Berührung signalisieren, dass SP die Not der Klientin (fortan K) wahrnimmt; Augenkontakt herstellen; offene Frage stellen und Zeit lassen für die Antwort.
Zweite Sequenz: Die Not der Klientin ernst nehmen, Suizidalität thematisieren
Die Sozialpädagogin stellt verschiedene Fragen, welche die Klientin in ihrer akuten Not jedoch nicht beantworten kann. Darauf fragt die Sozialpädagogin, ob die Klientin daran denke, sich selbst weh zu tun, worauf diese nickt. Infolgedessen erklärt die Sozialpädagogin, dass sie in diesem Fall den Notfallpsychiater hinzuziehen möchte, um sicherzustellen, dass die Klientin in dieser Situation die bestmögliche Hilfe erhält. Die Sozialpädagogin schlägt der Klientin weiter vor, sie in ihr Zimmer zu begleiten, so dass die Sozialpädagogin den Notfallpsychiater benachrichtigen kann. Auf dem Weg dorthin begegnet ihr die Freundin der Klientin, welche besorgt nachfragt, was los sei. Die Sozialpädagogin führt die Klientin ins Zimmer und geht darauf raus, um die Freundin zu bitten, die Klientin zu fragen, ob diese ihre Anwesenheit wünsche.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: K weint immer noch heftig, lässt aber zu, dass die Freundin sich zu ihr setzt
- Emotion Professionelle/r: Alarmiert, da Suizidalität nicht ausgeschlossen werden kann; unruhig, da die andere Teamperson kurzfristig ausser Haus ist und sie die Klientin eigentlich nicht mit der Freundin alleine lassen möchte.
- Kognition Professionelle/r: K hat auf die Kontaktaufnahme reagiert, ist jedoch bezüglich Suizidalität nicht absprachefähig; Hinzuziehen eines Experten zum Zwecke der Risikoeinschätzung unabdingbar; SP legt sich im Kopf zurecht, welche Informationen sie dem Notfallpsychiater geben muss, damit er die Situation beurteilen kann.
Dritte Sequenz: Beiziehen weiterer Fachpersonen
Die Sozialpädagogin beobachtet, wie die Klientin auf ihre Freundin reagiert und weil die Klientin keine Abwehr zeigt, wagt sie es ins Büro zu gehen. Sie sucht die Nummer des Notfallpsychiaters heraus. In dem Moment kommt die Teamkollegin zurück. Die Sozialpädagogin schildert ihr kurz die Situation, worauf die Teamkollegin anbietet, die Klientin währenddessen zu betreuen. So kann die Sozialpädagogin den Anruf tätigen. Sie beschreibt die Situation, das Verhalten der Klientin und gibt die Personalien durch. Der Notfallpsychiater informiert seinerseits, dass er erst in 1 ½ bis 2 Stunden kommen kann, da er aktuell in einer Notsituation involviert ist. Er bietet jedoch an, im Falle einer Verschärfung der Situation eine Kollegin als Ersatz zu schicken. Man einigt sich darauf, dass die Sozialpädagogin bei einer weiteren Eskalation der Situation erneut anruft und sich der Notfallpsychiater ansonsten meldet, sobald er sich auf den Weg macht.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: …
- Emotion Professionelle/r: Beruhigt, da die Teamkollegin wieder anwesend ist und der Experte erreichbar war.
- Kognition Professionelle/r: Der Experte konnte die Einschätzung der SP nachvollziehen und sieht eine Abklärung ebenfalls als notwendig, was die SP in ihrem Vorgehen bestätigt.
Vierte Sequenz: Gespräch mit der Klientin
Die Sozialpädagogin geht wieder zur Klientin. Sie spricht sich mit der Teamkollegin ab, dass diese dafür sorgt, dass die Jugendlichen, da Bettzeit ist, nun allmählich in ihre Zimmer gehen. Die Klientin kann nach wie vor über die Gründe für ihre seelische Not nicht sprechen. Um sie zum Reden zu animieren, verwickelt die Sozialpädagogin die Freundin der Klientin in ein Gespräch darüber, was sie an der Klientin besonders schätzt. Allmählich beginnt die Klientin zu erzählen, dass eine Freundin in der Parallelklasse schlecht über sie rede. Die anwesende Freundin wird durch die Sozialpädagogin nun zu Bett geschickt, nachdem sich Sozialpädagogin und Klientin bei ihr bedankt haben. Die Klientin beschreibt, die Freundin würde behaupten, dass sie nichts für sich behalten könne, Geheimnisse herumerzähle und zudem mit ihrem Freund geflirtet habe. In einem Nebensatz erwähnt die Klientin zudem, dass sie heute in der Stadt ihren Vater gesehen habe. Mit diesem hat sie seit mehreren Monaten keinen Kontakt. Die Sozialpädagogin weiss zudem, dass die Klientin gestern davon berichtet hatte, dass die neue Therapeutin mit ihr in der zweiten Sitzung einige Berichte durchgegangen sei, in denen Fakten standen, welche die Klientin verstört hatten. Weil die Klientin jedoch das Problem mit der Freundin zum zentralen Thema macht, stellt die Sozialpädagogin Fragen dazu, wie es zu den Konflikten kam und versucht anschliessend die Klientin durch Fragen darauf zu bringen, wie sie mit dieser Situation umgehen kann. Darauf kann sich die Klientin nicht einlassen, sondern beginnt erneut heftig zu weinen. Es folgt eine längere Phase, in der die Klientin weiter laut weint und die Sozialpädagogin daneben sitzt. Zum Trost streichelt die Sozialpädagogin die Schulter der auf dem Bett liegenden Klientin, was diese zulässt.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Kann sich auf ein Gespräch, jedoch nicht auf die Lösungssuche einlassen und beginnt wieder heftig zu weinen. Das Weinen dauert nun schon über eine Stunde an.
- Emotion Professionelle/r: Anfangs neugierig und wohlwollend, mit Verlauf des Gesprächs und Scheitern der Lösungssuche irritiert, dass ein Konflikt mit der Freundin zu einer solchen Krise führen kann. Da sie den Vater nur nebenher und die Situation in der Therapiestunde gar nicht erwähnt, keimt der Verdacht auf, dass es der Klientin allenfalls lediglich darum geht, durch das Gestalten einer Krise umsorgt zu werden.
- Kognition Professionelle/r: Die SP vermutet, dass die Klientin über geringe Resilienz verfügt und kaum gelernt hat, Lösungen für Probleme zu suchen und zu erproben. Weil sich die Klientin kaum beruhigt, ist sie zusätzlich in ihrem Vorgehen bestärkt, den Notfallpsychiater informiert zu haben.
Weitere Sequenzen
Fünfte Sequenz: Bewusster Unterbruch und kollegiale Beratung
Die Sozialpädagogin teilt der Klientin mit, dass sie sich kurz mit der Teamkollegin beraten möchte. Sie bittet die Klientin ins Wohnzimmer und somit in die Nähe des Teambüros zu kommen, da alle Jugendlichen im Bett sind. Als diese mit einem Tee versorgt, aber nach wie vor weinend auf dem Sofa sitzt, begibt sich die Sozialpädagogin ins Büro, um sich mit der Teamkollegin abzusprechen. Sie teilt ihr mit, dass die Krise weiterhin besteht und äussert ihre Vermutung, dass es der Klientin allenfalls um Aufmerksamkeit gehen könnte. Die Teamkollegin teilt diese Vermutung. Weil die Situation unter Kontrolle ist, entlässt die Sozialpädagogin ihre Teamkollegin in den Feierabend.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Kann sich auf ein Gespräch, jedoch nicht auf die Lösungssuche einlassen und beginnt wieder heftig zu weinen. Das Weinen dauert nun schon über eine Stunde an.
- Emotion Professionelle/r: Weint weiterhin, jedoch weniger heftig.
- Kognition Professionelle/r: Der Austausch mit der Teamkollegin dient der Überprüfung des Vorgehens. Hypothesen haben darin Platz und es wird vereinbart, dass diese in der Teamsitzung am nächsten Tag in Anwesenheit der Konsiliarpsychologin erwähnt werden.
Sechste Sequenz: Zeit überbrücken, Präsenz zeigen und für Ablenkung sorgen
Die Sozialpädagogin begibt sich wieder zur Klientin, bleibt bei ihr und tröstet, exploriert aber nicht weiter Lösungswege für die Konfliktsituation. Als die Klientin ruhiger wird, schlägt die Sozialpädagogin vor, dass sich die Klientin bis zum Eintreffen des Notfallpsychiaters mit fernsehen ablenkt, worauf sie sich einlassen kann. In der Zwischenzeit hat die Sozialpädagogin etwas Zeit, die Situation und das Vorgehen im Tagesjournal festzuhalten.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Sie ist ruhiger und wirkt erschöpft, hört auf zu weinen.
- Emotion Professionelle/r: Ruhig, aber müde.
- Kognition Professionelle/r: Da die Klientin ruhiger ist, ist Dokumentation möglich; dennoch bleibt die SP aufmerksam.
Siebte Sequenz: Fachperson mit Informationen versorgen
Spät Abends meldet sich der Notfallpsychiater und kündigt sein Eintreffen in 15 Min. an. Die Sozialpädagogin nimmt ihn am Tor in Empfang, informiert die Klientin, dass er nun eingetroffen sei und bittet den Notfallpsychiater ins Büro. Sie schildert ihm die Situation seit dem ersten Telefonat, liefert Informationen zum Klinikaufenthalt, zum bisherigen Aufenthalt in der Durchgangsgruppe und den Auslösern der Krise, welche die Klientin geltend macht. Darauf begibt sich der Notfallpsychiater ins Gespräch mit der Klientin, welches in Abwesenheit der Sozialpädagogin geschieht.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Sie reagiert nur schwach auf die Information, dass der Notfallpsychiater nun eingetroffen sei.
- Emotion Professionelle/r: Fühlt sich gehört und ernst genommen; kann ihre Bedenken und Sorgen äussern.
- Kognition Professionelle/r: Vermittelt klare und präzise Informationen und benennt Hypothesen als solche.
Achte Sequenz: Austausch zwischen Fachpersonen, Abschluss
Nach einem 45-minütigen Gespräch informiert der Notfallpsychiater, dass er die Klientin nicht als akut suizidal einschätzt, ihr aber vorgeschlagen hat, für die Nacht ein beruhigendes Medikament einzunehmen. Dies möchte er jedoch mit der Mutter der Klientin absprechen. Darauf ruft er diese an und es folgt ein längeres Gespräch, weil sich die Mutter erst nicht einverstanden erklärt, dass ihre Tochter ein Medikament einnimmt. Am Ende überlässt sie jedoch die Entscheidung, da es sich um eine einmalige Gabe handelt, ihrer Tochter, welche das Medikament nehmen möchte. Der Notfallpsychiater übergibt der Sozialpädagogin eine Tablette des erwähnten Medikaments und spricht mit ihr ab, dass er am folgenden Tag die Therapeutin der Klientin über seinen Einsatz in Kenntnis setzen werde. Wir schliessen das Gespräch ab. Als er gegangen ist, begebe ich mich zur Klientin, gebe ihr das Medikament und frage sie, wie das Gespräch geholfen habe. Sie sagt mir, es habe geholfen, erzählt aber keine Details. Danach begibt sie sich müde zu Bett. Am nächsten Morgen sieht die Klientin zwar müde und noch mitgenommen aus, geht aber zur Schule.
Reflection in Action
- Emotion Klient/in: Erscheint müde, aber wieder ruhig; weint nicht mehr.
- Emotion Professionelle/r: Müde, aber beruhigt, dass Klientin von suizidalen Gedanken Abstand nehmen konnte; das Einschlafen fällt dennoch schwer; mit dem Vorgehen zufrieden.
- Kognition Professionelle/r: Lässt den Abend gedanklich nochmals Revue passieren um diesen abzuschliessen.