5.1 Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?
Warum ist der Klient so gestresst?
- Die psychologische Stressforschung zeigt, dass Stress dann eintritt, wenn das verfügbare Bewältigungspotenzial eines Menschen für gewisse Anforderungen nicht ausreicht. Anforderungen können als Stressoren oder Stressauslöser bezeichnet werden. Dazu gehören allgemein ausgedrückt, Entwicklungsaufgaben, kritische Lebensereignisse und Alltagsstressoren. Wenn ein Jugendlicher mit stressauslösenden Faktoren konfrontiert wird, und nicht in der Lage ist, adäquat darauf zu reagieren, kann dies zur Bildung von Stresssymptomen führen. Die Stressreaktion spielt sich auf körperlicher oder emotionaler Ebene, in Gedanken, sowie im Verhalten ab. Das heisst in Stresssituationen enthält jeder dieser Bereiche typische Veränderungen (vgl. Hebold 2004: 83). In der beschriebenen Situation erhält der Klient ein unerfreuliches Telefonat, welches bei ihm Stress auslöst, er weiss nicht, wie er adäquat darauf reagieren kann und ist deshalb gestresst.
- Nach der Theorie von U. Bronfenbrenner betrachtet man den Mensch und seine Umwelt als Gesamtsystem, welches in fünf Systeme unterteilt ist, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen (vgl. Bronfenbrenner in Flammer 2005: 203- 215). Übertragen auf die beschriebene Situation hat dies folgendes zu bedeuten: Geht es dem Vater des Klienten schlecht hat dies demnach Auswirkungen auf den Jugendlichen. Es belastet ihn. Erfährt er vom schlechten Gesundheitszustand des Vaters löst dies in ihm Besorgnis und Angst aus. Sichtbar werden diese Gefühle in einer gestörten Verhaltensweise, die als “Stress” wahrgenommen wird.
- Nach J. Bowbly kann ein Kind später besser mit Stress und Niederlagen umgehen, wenn es eine sichere Bindung zu seiner Bezugsperson aufbauen kann. Es weiss, wo es Hilfe und Unterstützung holen kann. Übertragen auf die beschriebene Situation hat dies folgendes zu bedeuten: Es ist bekannt, dass die Eltern vom Klient früher stark drogenabhängig waren. Mutter sowie Vater waren während der Entwicklung vom Klienten zu stark mit sich selbst beschäftigt und demnach nur bedingt fähig, für den Jugendlichen zu sorgen. Wenn er eine feste und sichere Bindung zu einer Bezugsperson hätte aufbauen können, hätte das seine Persönlichkeit gestärkt und gefestigt. Da der Jugendliche keine sichere Bindung aufbauen konnte, reagiert er bei Niederlagen und schlechten Nachrichten mit Stress, wird aus der Bahn geworfen und weiss nicht mehr, wie er handeln soll (vgl. http://www.kindergartenpaedagogik.de/1722.html).
- Die Sozialisationstheorie nach Hurrelmann bietet einen Erklärungshintergrund dafür, wie sich Menschen in bestimmten Situationen verhalten. Die Individualität eines Menschen entwickelt sich durch seine genetischen Anlagen einerseits und Umweltbedingungen andererseits. Für eine gelingende Persönlichkeitsentwicklung ist eine den individuellen Anlagen angemessene soziale und materielle Umwelt zentral. Vor allem die Familie wird als wichtige Sozialisationsinstanz angesehen. Die Grundstrukturen der Persönlichkeitsentwicklung werden durch den Kontakt im Elternhaus geprägt. Gestörte Familienverhältnisse können sich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken (vgl. Hurrelmann 2006: 30). Dieses Wissen dient in der beschriebenen Situation dazu, das Verhalten und die Handlungen des Jugendlichen verstehen zu können. Die Eltern als wichtigste Sozialisationsinstanz leben getrennt und diese Situation scheint sich in gewisser Weise negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung auszuwirken. Viele Verhaltensweisen von Kindern werden durch das Verhalten und die Erziehung der Eltern geprägt. Der Jugendliche im Beispiel scheint gar nicht zu wissen, wie er sich in bestimmten Situationen anders verhalten könnte, da er dies nie gelernt hat und es ihm nie vorgelebt wurde. Sein Stressverhalten, welches er bei Feierabend an den Tag legt, könnte damit erklärt werden.
- Nach der Psychosozialen Entwicklungstheorie nach Erikson wird die menschliche Entwicklung in 8 Stufen eingeteilt. Er geht davon aus, dass der Mensch im Laufe seines Lebens verschiedene Konflikte bewältigen muss. Aus den überwundenen Konflikten geht er gestärkt hervor. Die Abfolge der Stufen ist von der Natur vorgegeben. Die Bewältigung obliegt allerdings dem Individuum (vgl. Erikson 1973: 56ff.). Die Themen dieser Konflikte sind immer im Menschen vorhanden, werden aber zu einer bestimmten Zeit dominant. Dann spricht Erikson von Krisen. Dabei wird ein Teilbereich bewusst und es entsteht eine besondere Verletzlichkeit (vgl. ebd.: 59ff.). Voraussetzung für eine bestimmte Stufe ist immer die Bewältigung der vorhergehenden. Wurde beispielsweise das Urvertrauen auf der ersten Stufe nicht optimal gebildet, bestehen für alle folgenden Stufen erschwerte Bedingungen, was aber nicht zwingend heisst, dass die folgenden nicht trotzdem gut bewältigt werden können.
Übertragen auf die beschriebene Situation hat dies folgendes zu bedeuten: Der Klient befindet sich seinem Alter entsprechend in der 5. Stufe. In dieser Lebensphase geht es darum, seine soziale Rolle zu festigen. Die früheren Kindheitsphasen (Stufen 1-4) werden verknüpft, in denen zuerst der Körper, dann die Eltern führend waren. Der Abschluss jeder Stufe führte zu einem Zuwachs an ICH- Stärke. Da beim Jugendlichen davon ausgegangen wird, dass es ihm während seiner Kindheit nicht möglich war, eine sichere Bindung zu seinen Eltern aufzubauen, kann gesagt werden, dass der Klient die Stufe 3 nicht erfolgreich abgeschlossen hat. In der Stufe 3 entwickelt sich das Kind sehr stark. Das Kind wird gelenkt durch das Gewissen. Entscheidend dabei ist, dass grundlegende Werte zuverlässig sind. Die Bezugspersonen müssen sich an die Regeln, die sie dem Kind setzen, halten, da sie eine grosse Vorbildfunktion haben (vgl. ebd.: 94f.). Werden die Schuldgefühle zu gross, werden diese überkompensiert durch übermässige Initiative und Draufgängertum. Übermässige Initiative und Draufgängertum wird beim Klient regelmässig nach Feierabend beobachtet. Vom Team, welches vor Ort arbeitet, wird dieses Verhalten als Stress deklariert. Wird dies jedoch nach Erikson erklärt, kann gesagt werden, dass der Klient aufgrund nicht erfolgreichen Abschliessens der Stufe 3 dieses Verhaltensmuster an den Tag legt. Der Heranwachsende denkt, sein Wert bestehe nur in dem, was er leistet und nicht in dem, was er als Mensch ist. Der Jugendliche ist rastlos und muss bevor er nach Feierabend Ruhe findet, seine Präsenz auf der Gruppe mitteilen.
5.2 Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?
Wie hat die SP in der Situation gehandelt?
- Gesprächsführung nach dem lösungsorientierten Ansatz:
Natürliche Empathie: Die SP sollte sensibel auf die Gefühlswelt des Klienten eingehen können, da er der Experte seiner Lebenswelt ist. Der Klient besitzt das Wissen, welches benötigt wird, um das Problem zu lösen. Die Aussagen des Klienten sollten ganzheitlich aufgenommen werden. So können nicht nur kognitive sondern auch emotionale Aspekte aufgefasst werden. Diese ganzheitliche Wahrnehmung ermöglicht der SP eine empathische und natürliche Reaktion (vgl. de Jong & Berg, 2003: 74). Bezogen auf die beschriebene Situation wird dies gewährleistet, indem die SP die Emotionen (Trauer und Angst um den Vater) wahrnimmt und thematisiert. Der Klient kann seine Gefühlswelt der SP mitteilen, wodurch er sich beruhigen kann.
Zuhören und Schweigen: Die SP soll von ihrem eigenen Bezugsrahmen, ihren Erfahrungen und den daraus resultierenden Wertmassstäben Abstand nehmen, um dem Klienten vorurteilsfrei zuhören zu können. Die SP versucht das Gehörte aus der Perspektive des Klienten aufzunehmen, wobei sie sich auf die Sprache des Jugendlichen einlässt, und besonders subtil hinhört, wenn es um wiederkehrende Aussagen oder sogenannte ‚Schlüsselworte’ geht. ‚Schlüsselworte’ sind bevorzugt verwendete Ausdrücke, Bilder, Metaphern, die bestimmte innere kognitive und emotionale Vorgänge repräsentieren können (vgl. http://www.nla-schweiz.ch/Download/LoA_im_SP_Kontext.pdf).
- Krisengespräche nach Wolfgang Widulle
Der erste Schritt im Gespräch besteht darin, die Krise anzuerkennen und das Befinden des Klienten (auch irritierende Äusserungen) zuzulassen und ernst zu nehmen; (…). Das Aussprechen von Ärger, Wut und Trauer ist dabei bereits ein erster Schritt zur inneren Distanzierung. Ein wichtiger Schritt ist hier auch die Deklaration, dass es sich um eine Krise handelt. Es ist zu klären, was für eine Krise vorliegt, wie stark der Klient und sein Umfeld betroffen sind, welche Auslöser zur Krise geführt haben und vor allem, ob das Risiko von impulsiven Handlungen, Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Die SP nimmt den Klienten ernst und nimmt sein Befinden wahr. Sie sucht das Gespräch mit ihm, damit er seine Emotionen (Wut, Ärger, Trauer) ausdrücken kann, weiter fragt die SP was genau passiert ist (vgl. Widulle Wolfgang.2012: 209ff.).
5.3 Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?
- Aus eigenen Erfahrungen, sowie aus denen der TeamkollegInnen ist bekannt, dass es beim Jugendlichen hilft, ihn in Stresssituation zu beruhigen. Bewusst wird die Situation etwas entschärft, indem die SP gegenüber dem Klient ruhig auftritt. Kommt der Jugendliche von der Arbeit und fällt in das Stressverhaltensmuster, kann es hilfreich sein, ihm zu sagen, er solle sich erstmals umziehen und danach etwas zu Abend essen. Dabei wird er von einem/r SP begleitet. Gezielt wird nachgefragt, wie sein Tag war und wie es um sein Wohlbefinden steht. Durch das entstehende Gespräch wird ermöglicht, dass der Jugendliche seine Erfahrungen, Wünsche und Bedürfnisse äussern kann. Stressiges Verhalten kann dadurch vermindert werden und er kann sich etwas entspannen. Es ist sehr wichtig, auf ihn zuzugehen und ihm zu zeigen, dass man sich über seine Anwesenheit freut. Somit wird der Klient wahrgenommen und erfährt durch eine unterstützende Äusserung Beachtung und Wertschätzung.
- Weiter kann aus eigenen Erfahrungen gesagt werden, dass es gewinnbringender ist, etwas zu bereden, wenn man sich dafür Zeit nimmt und es nicht zwischen Tür und Angel bespricht. Nicht zuletzt kann dadurch einem aufgewühlten Verhalten entgegengewirkt werden. Aufgrund dessen bittet die SP den Klienten ins Büro, um das Problem in Ruhe zu besprechen.
- Ein bewusstes Zurückziehen von Seiten der SP findet statt, da aus ihrer Erfahrung bekannt ist, dass Probleme vorerst lieber mit Gleichaltrigen ohne erzieherischen Hintergrund besprochen werden. Der Klient kann sich dadurch besser äussern, sowie seine Gedanken ordnen.
- Das Telefonat an den Teamkollegen findet statt, da aus Erfahrungen der SP bekannt ist, dass es von Vorteil ist, bei Unsicherheit eine zweite Meinung beizuziehen. Erfahrungen dessen konnten in die bevorstehenden Arbeiten mit einbezogen werden. Dies ermöglichte der SP eine sichere Handlungsweise. Nicht zuletzt ist aus Erfahrungswissen bekannt, dass sich in einer schwierigen Situation nichts besser eignet, als sich an die eigene innere Ruhe zu erinnern und diese das Gegenüber spüren lassen.
5.4 Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?
- Ein strukturierter und den Bedürfnissen angepasster Erziehungsrahmen gibt die nötige Orientierung und Sicherheit.
- Die Stiftung nimmt männliche und weibliche Jugendliche aus erschwerten sozialen Lebenssituationen auf.
- Der Auftrag der Stiftung ist es, die Jugendlichen mit einer gezielten, professionellen sozialpädagogischen Arbeit zu unterstützen. Die Jugendlichen werden in ihrer Entwicklung und Persönlichkeitsbildung begleitet, sodass sie den ständig wachsenden Ansprüchen der Gesellschaft gewachsen sind.
- Da systemisch gearbeitet wird, werden Ressourcen des Jugendlichen sowie des Familiensystems gestärkt, wobei interdisziplinär gearbeitet wird.
- Eine Reintegration ins Herkunftsmilieu wird angestrebt.
5.5 Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?
- Eigene wohlwollende, empathische und kommunikative Fähigkeiten in der Arbeit mit Klienten anwenden können. Jeder Klient wird als einzigartige und eigenständige Person betrachtet, wodurch die jeweilige Autonomie und Selbständigkeit gefördert wird. Der Klient wird bei Bedarf in jenen Bereichen unterstützt, in welchen er/sie auf Hilfe angewiesen ist. Im Kontakt mit dem Klienten wird vollumfänglich auf ihn/sie eingegangen. Ersichtlich wurde diese Fähigkeit bei der SP darin, das sie sich bewusst aus der Jugendlichenrunde zurück zieht, und den Klienten bittet, nach Beendung des Gesprächs ins Büro zu kommen. Wohlwollend, respektvoll und empathisch geht die SP auf den Jugendlichen zu.
- Weiter die Fähigkeit, Gespräche nach Prinzipien des lösungsorientierten Ansatzes führen zu können. Hierbei verhält man sich natürlich und empathisch, wobei die Perspektive des Klienten mit einbezogen wird. Schweigen wird ausgehalten und eine für den Klienten zugängliche Sprache verwendet. Die SP bespricht die kritische Situation mit dem Klienten in einer eins zu eins Situation im Büro, wobei dem Klienten Raum gegeben wird, seine Ängste und Trauer mitzuteilen. Auch die SP äussert natürlich ihre Besorgnis um den Vater.
- Ressourcen- und Lösungsorientiertes Arbeiten. Gemeinsam bespricht die SP mit dem Klienten, wie sie vorgehen werden. Es wird klar abgemacht, dass der Klient an diesem Abend nicht mehr ins Spital fährt, um den Vater zu besuchen, sondern dies auf den nächsten Tag verschoben wird. Aufgrund des vorgängigen Telefonats mit dem Vater des Klienten kann sich der Klient mit dieser Abmachung abfinden
5.6 Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?
Ein Betreuer ist jeweils zuständig für zwei Jugendliche. Die Jugendlichen haben so eine Person, welche für sie die Hauptperson darstellt und somit für sie zuständig ist. Persönliche Anliegen wie Finanzen, Ziele, Elternarbeit etc. werden mit der Bezugsperson differenziert besprochen und begleitet. Vereinbarungen werden getroffen und festgehalten. Jedes Teammitglied wird eingebunden und handelt transparent, um die Vereinbarungen zu verwirklichen. Dies kann folgende Problematik mit sich bringen: Die Bezugsperson ist nicht immer vor Ort, wenn der Klient auf Hilfe angewiesen ist. Zudem kann eine Antipathie zwischen dem Klienten und der Bezugsperson bestehen, sowie mangelnde Kooperation die Arbeitsbeziehung beeinträchtigen. In diesem Fall kann es sehr schwierig sein, Hilfe anzubieten und einen Zugang zum Klienten zu finden.
5.7 Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?
- Werte werden in der alltäglichen Arbeit mit dem Klienten vermittelt und nahe gebracht. Respekt, Toleranz und Achtung vor dem Anderen stehen hierbei an vorderster Stelle. Neben persönlichen Gesprächen, in welchen das Wertewissen zum Ausdruck kommt, geschieht dies ebenso bei Hinweisungen auf schlechte Manieren bei Tischsituationen oder im alltäglichen Handeln bzw. Leben miteinander. Die Problematik hierbei: Unterschiedliche Werte treffen aufeinander. Dies kann zur Folge haben, dass kulturelle und herkunftsbedingte, also bereits verankerte Werte, in Frage gestellt und diskutiert werden, damit ein gemeinsames und für alle stimmiges Alltagsleben funktionieren kann.
- Das humanistische Menschenbild besagt, dass jeder Mensch seine Qualitäten hat, welche es zu fördern gilt und besonders in kritischen Situationen hervorzuheben sind.
- Weiter ist das Selbstbestimmungsrecht das Recht eines jeden Menschen. Die Autonomie und das Mitbestimmungsrecht eines Klienten stehen somit stets an erster Stelle.
- Der Berufskodex/ Berufsethik besagt, dass das Selbstbestimmungsrecht der Klienten zu wahren ist. Die Klienten werden in ihrer persönlichen Art respektiert und individuell begleitet. Die Professionellen der Sozialen Arbeit sind sich ihrer Positionsmacht bewusst und gehen sorgfältig damit um.
- Das zugehörige Menschenbild veranschaulicht somit, dass alle Menschen gleichwertig sind, dass jede Person einzigartig, wertvoll und unverwechselbar ist.