5.1 Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?
Was könnten Ursachen für das verweigernde Verhalten des Klienten A und seine Faszination für den Nationalsozialismus sein? Der Jugendliche erlebt zuhause in seiner primären Sozialisationsinstanz Familie zwei sehr ambivalente Erziehungsstile. Die Mutter ist der ruhende Pol, sie umsorgt und behütet ihren Sohn, was als Versuch, das Verhalten des Vaters kompensieren zu wollen, interpretiert werden könnte. Wo sie einen überbehütenden Erziehungsstil zeigt, ist der Vater ein autoritärer Typ, der sich über die Bedürfnisse seiner Kinder hinwegzusetzen scheint. Sein Verhalten ist grob und zeigt wenig Empathie, er bedient sich auch in der Kommunikation einer gewalttätigen Aussprache. Als Erziehungsmittel hat er bei seinem Sohn schon mehrmals körperliche Gewalt angewendet. Die SA könnte sich vorstellen, dass ihr Klient A. als Sohn hin- und hergerissen ist zwischen den zwei grundverschiedenen Verhaltensweisen seiner nächsten Bezugspersonen. Für welchen Pol soll er sich nun entscheiden, wenn er sich in schwierigen Situationen befindet? Soll er für seine Bedürfnisse auf liebevolle und anlehnende oder auf gewaltvolle und aggressive Weise einstehen? So wechselt er ständig zwischen diesen zwei Abgründen, in Konflikten sind meistens beide Anteile prozessual sichtbar. A. adaptiert gewalttätiges Verhalten wenn er sich in Stresssituationen oder unter Druck fühlt. Empfindet er mehr Sicherheit und Ruhe (z.B. Schlechtes Gewissen nach Konflikt) kann und muss er seine zarte und sensible Seite zeigen (vgl. Hurrelmann 2002:156 ff).
Psychoanalytisch begründet liegt die Vermutung nahe, dass A. Schwierigkeiten hat zwischen den einerseits subjektiv empfundenen Erwartungen der Umwelt, andererseits persönlich empfundenen Gefühlsregungen zu vermitteln. Das „ICH“, welches zwischen Individuum (Triebe und Instinkte) und Umwelt (Normvorstellungen und gesellschaftliche Erwartungen) eine verbindende Rolle inne hat, könnte somit zu schwach ausgebildet sein. Weil A. diese inneren Widersprüche nicht ausreichend überwinden kann, greift er zu (gewalthaltigen) Handlungsstrategien, welche nicht mehr altersadäquat sind. Er hat des Weiteren Schwierigkeiten, die Bedeutung seines Handelns abzuschätzen und zu reflektieren (vgl. Scheu 2009:36 ff).
Kombiniert man diese beiden Theorien wird ersichtlich, dass sich A. in einem Spannungsfeld befindet. Der Vater verkörpert somit das „ÜBER-ICH“, indem er auf dominante Weise auf gesellschaftliche Normvorstellungen pocht (der Junge muss eine Lehre machen, eine Anlehre ist nichts für ihn) und ihn damit unter Druck setzt. Die Mutter steht für die andere Seite. Das „ES“, welches die ureigenen Triebe wie Hunger und Schlaf und instinktive Handlungen in sich hat wird von ihr gehegt und in einem Masse unterstützt, welches nicht mehr sinnvoll für den Klienten ist.
Ausserdem sollte die Tatsache berücksichtigt werden, dass sich der Jugendliche im Alter von 14 Jahren in der Adoleszenz befindet. Erikson beschreibt verschiedene Entwicklungsstufen, welche unterschiedliche Aufgaben für das Individuum bergen. Dabei wird die Phase der Jugend (Identitätskonstruktion und Diffusion) als herausfordernd und krisenhaft beschrieben weil die junge Frau/ der junge Mann ihre Wertvorstellungen neu finden, verschiedene Rollen ausprobieren, sich mit einer beruflichen Zukunft auseinandersetzen und sich neu erfinden muss (vgl. Skript BA03 -> Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erik H. Erikson 06.03.2012). Deshalb ist unangepasstes und provokatives Verhalten gegenüber Erwachsenen, welche gefestigte Normen vertreten, in einem gewissen Masse auch gesund und wichtig. Hierbei argumentiert Guggenbühl auch mit dem Aspekt des sozialen Raumes. Da Jugendliche gesellschaftliche Codes noch nicht vollständig internalisiert haben, nehmen sie den öffentlichen oder halböffentlichen Raum anders wahr und leben sich darin aus, als wären sie in ihrem Zimmer. Das Esszimmer im beschriebenen Situationsbeispiel ist eine Mischung aus Zuhause (privates eigenes Zimmer) und halböffentlichem Raum (gemeinsam für alle Mitbewohner/innen nutzbar, allgemein herrschende Regeln). Das bedingt eine sensible Wahrnehmung von Seiten des Jugendlichen, wie er sich dort verhalten darf und welche Handlungen nicht respektvoll den anderen gegenüber ist. Weil das Esszimmer ein sozialer Raum ist, verlangt die Sozialpädagogin auch vom Jugendlichen A., dass er seine Jacke auszieht (vgl. Guggenbühl 2011: 41 ff).
5.2 Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?
Wie wirkt sich das Durchziehen einer Regel auf den Jugendlichen aus? Einerseits tritt die Professionelle auch autoritär auf. Dies sollte dem Jugendlichen Grenzen aufzeigen und Sicherheit vermitteln. Gleichzeitig versucht sie zu vermitteln, dass sich Liebe und Strenge nicht widersprechen müssen sondern verschiedene Anteile einer Person sein können. In Bezug auf Gewalt wird sie auf zu viele Isolierungen verzichten, da diese auch gewalttätig wirken und dem Jugendlichen das Gefühl vermitteln könnten, dass man ihn auf der Gruppe nicht möchte und er nur eine bestimmte Seite von sich als akzeptiertes Verhalten ausleben kann. Es ist dabei wichtig, in der Sprache Klarheit und Sicherheit zu vermitteln und eine Kommunikation vorzuleben, die das gegenseitige Verständnis fördert. Damit die Bedeutung seines Handelns für den Klienten transparenter wird, sollten Gefühle und Reaktionen verbalisiert werden. Da kann man ruhig mal sagen: „ Es verletzt mich, wenn du so mit mir sprichst.“
5.3 Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?
Warum wird genau diese Sanktion von der Professionellen ergriffen? Der Jugendliche versucht offensichtlich, wenn auch auf negative Art, Aufmerksamkeit zu erhalten und in Beziehung zu den Erwachsenen zu treten. Einerseits versucht die Professionelle dabei, auf sein aggressives Verhalten ruhig zu bleiben und auf keine Provokation einzusteigen. So gibt sie ihm Sicherheit und bildet einen Ausgleich. Dann lässt sie ihm keinen Spielraum für Entscheidungsschwierigkeiten, weil sie ihm befiehlt, das Armband mit dem Hitlerkreuz fortzuwerfen.
Da die SA aus ihren Erfahrungen im Umgang mit dem Jugendlichen A. weiss, dass er durch extrinsische Forderungen in Konfliktsituationen schnell provokativ und aggressiv werden kann, möchte sie ihn im Moment der Wut und der Hilflosigkeit nicht noch mehr herausfordern sondern die Situation so bald als möglich verändern.
Die Erfahrung zeigt auch, dass es schwierig ist, Konfliktsituationen am Tisch in Anwesenheit der Gruppe zu erarbeiten. Klient A. buhlt um die Rolle des Alpha-Tiers und die Schwierigleiten der Gruppendynamik würden sich demnach verstärken (was denken die anderen von mir? Hey, ich werde vor den anderen gedemütigt, nun muss ich zurückgeben…) Deshalb wird dieser Jugendliche in solchen Momenten schneller von der Gruppe getrennt.
Das Alleinsein ermöglicht ihm, sein Zimmer als schützender Rückzugsort wahrzunehmen, zu reflektieren und sich auch schwach fühlen zu dürfen.
Trotzdem ist es wichtig, den Konflikt sobald als möglich nochmals mit dem Jugendlichen anzuschauen und ihm somit ein Beziehungsangebot zu machen. Die von Honneth begründeten drei Ebenen der Anerkennung zeigen, wie wichtig diese für eine Identitätskonstruktion sind. Emotionale Zuwendung auf der Beziehungsebene ist unabdingbar. Bei einem Verkennen wirkt dies wie Diskriminierung oder Stigmatisierung und stellt eine Verletzung der psychischen Integrität dar. Der Jugendliche, welcher selbst schon oft verletzt wurde und sein Gewaltpotential internalisiert auch weiter gibt, sollte eine solche Verletzung seiner Anerkennung (und somit Demütigung) nicht auch noch von Seiten der Professionellen erleben müssen (vgl. Honneth 1992, zit. nach Riegel 2004:140).
5.4 Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?
Wieso dieser rabiate Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus? Die im Leitbild des Schulheims verankerten Grundregeln zeigen Eckpfeiler eines respektvollen Umgangs aller beteiligten Personen auf. Darin wird auch erwähnt, dass es verboten ist, rassistische oder gewaltsame Symbole zu tragen und verbreiten. Der Auftrag, die Jugendlichen in ihrer sozialen Weiterentwicklung zu unterstützen zieht sich durch die gesamten alltäglichen Begebenheiten und Situationen. Die Institution beruft sich dabei auf die sieben Dimensionen des Menschseins, welche gefördert und gestärkt werden sollen damit sich Kinder und Jugendliche wieder in die Gesellschaft integrieren können. Zurück zum Hakenkreuz beinhaltet dies auch das Bewusstmachen der gesellschaftlichen Werte und Normen.
5.5 Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?
Die Arbeit in dieser Organisation erfordert einen gewissen Grundstock an theoretischem Wissen. Der lebensweltorientierte Ansatz nach Thiersch unterstützt das sozialpädagogische Handeln als Grundideologie. Des Weiteren sind in dieser Situation zahlreiche Sozialkompetenzen der SA gefragt: Feingefühl, die Situation zu erfassen, Konfliktfähigkeit, um konsequent und durchhaltend zu reagieren, Fähigkeit zu angebrachten Kommunikationsmitteln greifen zu können (klarer Ausdruck und Botschaft, Bestimmtheit, Autorität ausstrahlen, ernst nehmen) und Fähigkeiten der Kooperation die sich darin zeigt, dass die Professionelle die Beziehung auch wieder aufnehmen und die Konfliktsituation mit dem Klienten reflektieren und verarbeiten kann.
5.6 Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?
Einerseits sind zeitliche Rahmenbedingungen vorhanden: Das Mittagessen muss eingenommen werden, damit die Tagesstruktur gewährleistet und die Jugendlichen nachmittags den Schulunterricht wieder besuchen können. Um nicht zuviel Zeit zu verlieren, wird auch noch alleine mit dem Jugendlichen gearbeitet. Die Organisation arbeitet aus Überzeugung nicht mit Sanktionen wie Essentzug, deshalb darf der Jugendliche, um sein leibliches Wohl zu schützen, später noch fertig essen. Ebenfalls wird auf eine längere Isolation des Individuums verzichtet. Aufs Zimmer zu gehen kann als Strafe höchstens für eine halbe Stunde angeordnet werden.
Allgemein muss berücksichtigt werden, dass die SA gemeinsam mit einer anderen professionellen Person für neun Jugendliche verantwortlich ist. Sie kann sich durch die Auseinandersetzung mit einer Person nicht lange absorbieren lassen.
5.7 Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?
Berufsethik: Die Professionellen arbeiten mit Sanktionen, welche unterstützend, lehrreich und nachvollziehbar für die Jugendlichen sind. Sofern möglich wird versucht, koproduktiv und partizipativ Prozesse zu einer grösseren Selbstständigkeit und Selbstwirksamkeit zu fördern.
Menschenbild: Die Professionellen glauben an das humanistische Menschenbild, welches das Individuum als grundsätzlich gutes, sich veränderbares und wertvolles Individuum ansieht. So werden alle Menschen gleich behandelt, ihre Andersartigkeit und Individualität wird angenommen und wertgeschätzt mit dem Fokus auf die Stärken jedes Einzelnen. Schwächere Mitglieder werden dadurch geschützt und in ihrer Entwicklung unterstützt. Im Alltag wird angestrebt als heterogene Gemeinschaft zu leben und Ausgrenzung zu vermeiden.
Leitbild der Organisation: Im Leitbild sind Grundregeln des respektvollen Umgangs untereinander verankert. Dabei sind alle beteiligten Personen, ob Kinder, Jugendliche, SozialpädagogInnen oder der Lehrkörper, involviert. Aus dem Leitbild wird der lebensweltorientierte Ansatz nach Thiersch als grundsätzliche Theorie mit dem Ziel der individuellen Lebensbewältigung durch Unterstützungsaufgaben verwendet (vgl. Thiersch,1992:23 ff). Ausserdem arbeiten alle Professionellen mit dem Modell der Kooperativen Prozessgestaltung (Freud, Stotz, 2011: Kooperative Prozessgestaltung in der Sozialen Arbeit).