5.1 Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?
Warum stellt der Bewohner nur Fragen, um eine Kommunikation herzustellen und aufrechtzuerhalten?
Instrumentelles Lernen: Die Konsequenz, die einem Verhalten folgt, ist entscheidend dafür, ob etwas gelernt wird oder nicht. Wird ein Verhalten aufgebaut, folgt dem Verhalten eine positive Verstärkung, eine Belohnung (vgl. Edelmann 2000: 65). «Mit der Formel ‘Lernen am Erfolg’ hat Thorndike vor rund 100 Jahren das Prinzip der Verstärkungstheorien entdeckt.» (ebd.: 69) Das Verhalten steht also in Verbindung mit dem Ereignis. Die nachfolgenden Konsequenzen entscheiden darüber, wie häufig das Verhalten auftritt. Mit dem Verhalten kann eine bestimmte Wirkung erzielt werden (vgl. ebd.: 69).
Aufgrund dieses Lernprozesses hat der Bewohner gelernt, dass er mit Fragestellen eine Kommunikation aufrechterhalten kann. Wenn er etwas fragt, kommt gewöhnlich eine Antwort. Er ist kognitiv nicht dazu in der Lage, ein komplexes Gespräch zu führen, und behilft sich vermutlich deswegen mit dieser Technik. So kann er immer wieder Gespräche initiieren und erhält dadurch Zuwendung und Aufmerksamkeit, was ihm ein positives Gefühl gibt.
In der Situation nützt dieses Wissen, da so der Hintergrund verstanden werden kann, warum der Bewohner sich diesen Stil des Kommunizierens angeeignet hat. Es schafft ein gewisses Verständnis.
Wie kann die SpiA schneller wahrnehmen, dass sie in eine Situation gerät, die ihr unangenehm ist? Warum ist die Gestaltung von Nähe und Distanz in der Sozialpädagogik für sie immer wieder herausfordernd?
Professionelle Beziehungsgestaltung: Die Beziehungsgestaltung auf einer Wohngruppe bedarf einer konstanten Aufmerksamkeit und ist professionell zu gestalten, da sich die Alltagsnähe auf die Zusammenarbeit der SpiA und des Bewohners auswirkt. Die SpiA muss sich bewusst sein, dass sich eine professionelle Beziehungsgestaltung immer an einem Ziel und an einer Aufgabe orientiert. In dieser Situation geht es darum, den Bewohner bei der Alltagsbewältigung zu unterstützen. Für das Gelingen des Hilfeprozesses ist eine gute Beziehung zu dem Bewohner eine Voraussetzung. Die Schwierigkeit der Beziehungsarbeit liegt darin, dass sie eher als intuitiv empfunden wird und ein methodisches Vorgehen über die Grundhaltung und Ethik hinaus fast nicht möglich ist. Die Beziehungsgestaltung bewegt sich in dem Spannungsfeld zwischen Offenheit und Zurückhaltung, Spontaneität und Kontrolliertheit. Dies kann mit einer reflektierten Empathie erreicht werden. Reflektierte Empathie umschreibt die Fähigkeit, dass sich die SpiA während des Handelns beobachten kann, dass sie ihre Gefühle dabei unmittelbar bewusst wahrnimmt und dass sie sich während der Kommunikation selbst sprechen hört. Diese Fähigkeiten werden angewendet, ohne dass die SpiA vom Bewohner angespannt oder kontrolliert wahrgenommen wird (vgl. Heiner 2010: 459–463).
In der Situation hilft dieses Wissen der SpiA, sich bewusst zu machen, dass sie an der Fähigkeit arbeiten muss, sich in einer handelnden Situation selbst wahrzunehmen und zu reflektieren. Durch die Fähigkeit, ihre Gefühle unmittelbar wahrnehmen zu können, kann sie Situationen bewusst gestalten und lenken. Die SpiA muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie viel sie von sich privat preisgeben möchte und was nicht angemessen ist.
Nähe und Distanz: Die SpiA greift in die Intim- und Privatsphäre des Klienten ein, Faktoren wie der Geschlechter- und Altersunterschied wirken sich in dem Moment auf die Interaktion aus. Nach Dörr/Müller ist der Körper das Instrument, das zwischen Innen und Aussen, Nahem und Fernem und dem Hier und Dort entscheidet. Er vermittelt uns über sinnlich-sexuelle Signale in der Interaktion mit und in der Welt das Wissen, welche Nähe angenehm ist und wo Nähe bedrängend wirkt (vgl. Dörr/Müller 2012: 7). In dieser Situation wirkt sich also auch die körperliche Nähe auf die Beziehungsgestaltung aus. Sowohl Klient als auch Professionelle können emotional schneller berührt werden, denn im Hintergrund können Sexualität und Scham auf die Interaktion wirken. Sexualität verstanden als Körperlichkeit schwingt in zwischenmenschlichen Interaktionen immer mit – denn jeder Mensch hat einen Körper. Gerade in der Sozialen Arbeit ist es deshalb wichtig, die eigene sexuelle Identität zu reflektieren.
Ebenso sind Professionelle bei Eingriffen in die Intimsphäre besonders gefordert, die Beziehung behutsam und achtsam zu gestalten und Rücksicht auf individuelle Eigenheiten zu nehmen (vgl. Pörtner 2013: 117).
Dieses Wissen ist für die SpiA in der Situation bedeutsam. Sie verliert ihre Handlungssicherheit für einen Moment, da sie sich nicht sicher ist, ob sie sich outen soll oder nicht. Sie verspürt einen Moment Scham und ärgert sich gleichzeitig sehr darüber. Zudem spielen im Unterbewusstsein auch innere Abwehrhaltungen eine Rolle. Diese gilt es wahrzunehmen. Unwohlsein und negative Emotionen kann die SpiA für die Selbstreflexion nutzen. Letztlich wird die Situation in ihren ganzen Facetten für die SpiA durch diese, als negativ empfundenen Emotionen, greifbar.
Involviertheit der SpiA als ganze Person (Strukturmerkmal der Sozialen Arbeit): Die SpiA ist in ihrem professionellen Alltag mit ihrer ganzen Person involviert. Deshalb sind eine ständige Selbstreflexion und die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie nötig (vgl. Hochuli Freund/Stotz 2015: 60).
Dieses Wissen hilft der SpiA zu verstehen, dass sie auf gewisse Fragen sensibler reagiert als auf andere Fragen. Aufgrund ihrer Biografie ist sie sensibler auf Beziehungsfragen, da in der Gesellschaft eine heteronormative Haltung vorherrscht.
Was beeinflusst die Situation?
Kommunikationstheorie: Für eine sensible und adäquate Beziehungsgestaltung ist die Kommunikation ein wesentliches Instrument. Nach Hargie agiert jede Person zielgerichtet. Die Kommunikation ist ein dynamischer, interaktiver Prozess und wird vom Kontext definiert sowie von den Eigenschaften und Merkmalen der beteiligten Personen (vgl. Röhner/Schütz 2012: 35 f.).
In dieser Situation muss sich die SpiA bewusst sein, dass der Raum und das Verfolgen von Zielen der beteiligten Personen einen entscheidenden Einfluss haben. Das Ziel der SpiA ist es, die Körperpflege durchführen zu können. Der räumliche Kontext der Begleitung findet in einem Badezimmer statt, das zwar grosszügig gestaltet, als Raum aber geschlossen ist und keine Fenster hat. Ferner riecht es trotz täglicher Reinigung unangenehm. Ist sich die SpiA bewusst, dass die Merkmale der Person wie Alter, Geschlecht, Einstellung und Persönlichkeit einen Einfluss auf die Kommunikation haben, wird es ihr besser gelingen, die Kommunikation bewusst zu steuern. Ebenfalls wird es der SpiA helfen, wenn sie sich in dieser Situation über die Bedürfnisse der beteiligten Personen bewusst ist.
Nach Schulz von Thuns psychologischem Modell der zwischenmenschlichen Kommunikation hat jede Nachricht vier Aspekte. Eine Nachricht hat einen Sachinhalt, einen Beziehungsaspekt, einen Appell, und bei jeder Kommunikation gibt der Sender einer Nachricht auch etwas von sich preis (Selbstoffenbarung). So enthält eine Nachricht immer viele unterschiedliche Botschaften. Eine Nachricht transportiert folglich nicht nur einen Sachinhalt, sondern sie sagt auch immer etwas darüber aus, wie der Sender, die Senderin die Beziehung zu dem Empfänger, der Empfängerin definiert (vgl. Schulz von Thun 2002: 26–30).
In dieser Situation spielt es in der Kommunikation eine Rolle, welche Beziehungsbotschaft in einer Nachricht gesendet wird und wie diese Beziehungsbotschaft vom Gegenüber entschlüsselt wird. Hört die SpiA zu sehr mit dem Beziehungsohr hin? Interpretiert sie zu viel in die unbekümmerte Fragerei des Bewohners hinein?
Nach Schulz von Thun hat die zwischenmenschliche Interaktion eine Zirkularität. Treten zwei Menschen miteinander in Kontakt, entsteht eine Beziehungsdynamik, ein Wechselspiel von Aktion und Reaktion. Nimmt das Gespräch eine Eigendynamik an, die als schwierig oder negativ empfunden wird, kann das Modell des Teufelskreises helfen, eine solche Situation zu erkennen, zu verstehen und zu unterbrechen (vgl. http://www.schulz-von-thun.de/index.php?article_id=104).
In dieser Situation befindet sich die SpiA in einem solchen Teufelskreis, da sie immer wieder auf die Fragen des Klienten antwortet. Für die SpiA ist die Gesprächsführung gestört. Es ist eine explizite Metakommunikation angezeigt. Die SpiA muss ihre Rolle klären und dem Bewohner ihre Sicht der Arbeitsbeziehung verständlich machen.
Nachrichten enthalten immer einen sprachlichen und einen nichtsprachlichen Anteil. Diese Anteile können sich gegenseitig ergänzen oder sich widersprechen. Ist eine Nachricht kongruent, stimmt die nonverbale Kommunikation mit der verbalen überein, d. h. die Mimik und die Tonlage der Stimme passen zu dem, was gesagt wird. Wird z. B. etwas scherzhaft kommentiert, fühlt sich der Sender dieser Nachricht auch entspannt und ist in guter Stimmung. Werden inkongruente Botschaften gesendet, stimmt der Sachinhalt der Nachricht nicht mit den nonverbalen Signalen überein. Dies ist für den Empfänger verwirrend und führt zu Störungen in der Kommunikation (vgl. Schulz von Thun 2002: 35 f.)
Es ist wichtig, dass die SpiA kongruent und stimmig kommuniziert. Nimmt sie Störungen wahr, sollte sie diese ansprechen. Nimmt sie bei sich Ungeduld oder Unsicherheit wahr, muss sie sich bewusst sein, dass dies ihr Gegenüber ebenso wahrnehmen könnte. Übergeht sie ihre Gefühle, besteht die Gefahr, dass ihre Kommunikation nicht mehr kongruent ist, weil das, was sie sagt, evtl. nicht mit dem übereinstimmt, was sie denkt und fühlt.
5.2 Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?
Während der Unterstützung der Körperpflege nützt der Bewohner die Gelegenheit der ungeteilten Aufmerksamkeit und befriedigt sein Bedürfnis der sozialen Interaktion. In dieser Situation ist eine professionelle Beziehungsgestaltung seitens der SpiA wichtig. Sie ist gefordert, angemessen mit Nähe und Distanz umzugehen und eigene, unangenehme Emotion konstruktiv zu nutzen.
Wie kann die SpiA Arbeitsbeziehungen professionell gestalten?
Menschenbild und Grundhaltung: In jeder sozialpädagogischen Situation sind die Grundhaltung und das Menschenbild wichtig. Der personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers und dessen Grundhaltung sind geeignet, eine professionelle Arbeitsbeziehung herzustellen. Der personzentrierte Ansatz, der zur Strömung der humanistischen Psychologie gehört, geht von drei Bedingungen aus, die die helfende Person in die Beziehung einbringt: die Basisvariable Kongruenz, Unbedingte Wertschätzung und Empathisches Verstehen. Kongruenz heisst Übereinstimmung mit sich selbst und bedeutet, dass die helfende Person echt ist in der Begegnung mit der Klientel und keine professionelle Fassade vorschiebt (vgl. Rogers 1983: 213). Unbedingte Wertschätzung beschreibt, dass der Mensch als Person geachtet wird, dass er Wertschätzung erfährt und dies nicht an seine Verhaltensweisen gekoppelt wird (vgl. Weinberger 2013: 59). Empathisches Verstehen bedeutet, dass sich Professionelle auf die Klienten konzentrieren und versuchen, ihre Werte, Normen und Gefühle zu verstehen. Sie betrachten die Situation möglichst vom Standpunkt der Klienten, ohne aber ihren eigenen Standpunkt zu vergessen. Die Professionellen nehmen die Gefühlsregungen der Klienten auf und geben diese im Gespräch möglichst exakt wieder. Auf diese Weise können Klienten ihren eigenen Gefühlen mit einer Distanz begegnen und sie besser verarbeiten (vgl. ebd.: 41). Dadurch fühlt sich das Gegenüber verstanden und ernst genommen und wird wahrscheinlich auf das Beziehungsangebot eingehen. Nach Pörtner heisst empathisches Verstehen Zuhören und Ernstnehmen. Dies ist in der Beziehungsgestaltung mit Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung elementar, gerade wenn sie sich sprachlich nur schwer ausdrücken können oder die kognitive Verarbeitung des Gehörten länger dauert. Dabei ist es für die Beziehungsgestaltung unerlässlich, dass mit allen Sinnen zugehört wird, also auch wahrzunehmen, wie sich eine Person verhält, wie sie wirkt – nicht um zu interpretieren, sondern um zu verstehen (vgl. Pörtner 2015: 51).
Die Auseinandersetzung mit der personzentrierten Grundhaltung und deren Verinnerlichung unterstützt die SpiA in der Fähigkeit professionelle Arbeitsbeziehungen zu gestalten. Sie bewirkt, dass sie den Klienten als eigenständige Persönlichkeit sieht, sie ihm Respekt entgegenbringt und sensibel auf seine Bedürfnisse und sein Erleben eingeht. Wird die personzentrierte Grundhaltung gelebt, findet eine ehrliche, ernsthafte Begegnung zwischen zwei gleichwertigen Menschen statt, auch wenn deren Rollen und Fähigkeiten unterschiedlich sind.
Kommunikation: Um sensibel auf den Klienten eingehen zu können, ist die Gesprächsform «Einfühlendes Verstehen» nach der Gesprächsführung von Redlich geeignet. Zum «Einfühlenden Verstehen» zählt Redlich unter anderem «Aufmerksam Zuhören». «Aufmerksam Zuhören» bedeutet, konzentriert und präsent anwesend zu sein und dem Gegenüber Zuwendung und Aufmerksamkeit entgegenzubringen (vgl. Widulle 2012: 104). Beim «Aufmerksam Zuhören» fühlen sich Professionelle in die Gedanken und Gefühle der Klienten ein und begreifen mit einer akzeptierenden Grundhaltung, was diese auszudrücken versuchen (vgl. Redlich 2009: 17).
In der Situation ist auch relevant, dass die SpiA beziehungssensibel kommuniziert. Nach Redlich (vgl. 2009: 98) definieren Gesprächspartner in der Art und Weise wie sie miteinander kommunizieren auch immer das Bild von sich selbst und das des anderen. Wenn es um das Definieren des Fremd- und Selbstbildes geht, braucht es besondere Sensibilität, denn Menschen sind in diesem Bereich sehr empfindlich. Niemand möchte sein Gesicht verlieren und niemand möchte in eine Rolle gedrängt werden, die mit der eigenen Person nicht vereinbar ist. Es gilt, das Selbstbild des Gegenübers nicht zu verletzen.
Umgang mit Nähe und Distanz, eigene Emotionen erkennen und benennen: Um Störungen in der Beziehung und in der Kommunikation wahrnehmen zu können und für den professionellen Umgang mit Nähe und Distanz ist es entscheidend, dass die SpiA die Fähigkeit ausbildet bzw. festigt, Emotionen, die während der Interaktion mit der Klientel entstehen, im Moment zu erkennen, und gegebenenfalls angemessen mitzuteilen. Voraussetzung ist, dass die SpiA eigene Gefühle als solche benennt, dass sie nicht bewertet oder ihre Empfindungen als Tatsache formuliert (vgl. Rogers 1983: 31). Um diese Fähigkeit zu erlangen, kann wiederum die Auseinandersetzung mit dem personzentrierten Ansatz und dessen Verinnerlichung hilfreich sein. Die Basisvariabel Kongruenz verlangt, dass Professionelle fähig sind, ihre Emotionen während der Interaktion wahrzunehmen. Sind ihnen ihre Emotionen zugänglich, können diese angemessen in die Beziehungsgestaltung eingebracht werden. Auf diesem Weg wird Transparenz und Glaubwürdigkeit hergestellt (vgl. Rogers 1983: 31). Dies ist eine wichtige Grundlage für eine gelingende Kooperation und für eine Begegnung, die wirklich bedeutungsvoll ist und in der beide, professionelles Personal und Klientel, hinzulernen und sich weiterentwickeln können (vgl. ebd.: 215). Kongruenz zu leben ist keinesfalls einfach. Professionelle sind gefordert, mit ihrem Innenleben vertraut zu sein und sich selbst gut zu kennen. Es setzt die Bereitschaft voraus, negative Einstellungen zu akzeptieren und auch zu äussern (vgl. ebd.: 31). Negative Emotionen zu äussern heisst dabei nicht, unüberlegt eigene Probleme mitzuteilen, sondern eigene Empfindungen bezüglich der Beziehung zu dem Klienten oder der Klientin selektiv zu äussern. Begegnen Professionelle ihrer Klientel kongruent, ist eine Begegnung zwischen zwei unvollkommenen Menschen möglich (vgl. ebd.: 32). Kongruenz bedeutet aber auch Klarheit und Transparenz bezüglich der Rahmenbedingungen. Sind die Rahmenbedingungen für alle Beteiligten klar, bietet dies Sicherheit und kann vor Enttäuschungen bewahren.
Die SpiA kann folglich Kongruenz bzw. selektive Authentizität für die angemessene professionelle Gestaltung von Nähe und Distanz nutzen. Als Intervention eignet sich Metakommunikation. Treten Störungen in der Kommunikation auf, ist diese angezeigt. Metakommunikation bedeutet, dass über die Art und Weise der Kommunikation geredet wird. Es gilt, sich zu fragen, was im Hier-und-Jetzt in einem vorgeht und wie die zwischenmenschliche Situation erlebt wird. Die direkte Konfrontation mit der als oft peinlich erlebten Realität wird nicht gescheut, sondern angesprochen (vgl. Schulz von Thun 2015: 101–102). So kann die SpiA beispielsweise ansprechen, wie sie die Arbeitsbeziehung sieht und diese klären.
Strukturmerkmal «Involviertheit der Professionellen als ganze Person» und Professionalisierung: Erkennt die SpiA ihre eigenen emotionalen Anteile in der Beziehung und akzeptiert diese auch, erhöht sich ihre Fähigkeit durch Selbstreflexion die nötige Distanz zu ihrer eigenen Biografie, zu ihren Emotionen, Deutungsmustern und Wertesystemen zu gewinnen (vgl. von Spiegel 2013: 89). Die Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie gehört zur Professionalisierung. Es gilt einerseits, biografisch erworbene Sinn- und Bedeutungskonstruktionen durch Theorie- und Wissensaneignung zu modifizieren, und andererseits, eine reflexive Passung zwischen Lebensgeschichte und Professionalität herzustellen. Die reflexive Passung meint, dass auch biografische Ressourcen für das professionelle Handeln genutzt werden können, gleichzeitig aber immer eine reflektierte Haltung zur eigenen Geschichte und zum eigenen Standpunkt eingenommen wird (vgl. Grasshoff/Schweppe 2013: 319–325). Von Spiegel formuliert dazu die Dimension der beruflichen Haltung. Mit Bezug auf Rätz konstatiert sie, dass Professionelle die biografischen Prozesse und Sinnkonstruktionen ihrer Klientel nur verstehen können, wenn sie die Fähigkeit und Bereitschaft besitzen, ihre eigene Lebensgeschichte und die damit verbundenen Wertehaltungen zu hinterfragen. Die erkannten Werte gilt es dann, mit dem Wertewissen der Profession der Sozialen Arbeit zu relationieren (vgl. von Spiegel 2013: 83).
Die SpiA ist also gefordert, sich fortlaufend mit ihrer eigenen Biografie auseinanderzusetzen. Sie wird sich dadurch bewusst, wo der Ursprung liegt, wenn sie in der Beziehungsgestaltung mit der Klientel emotional berührt wird, und kann so die eigene Involviertheit nutzen. Die SpiA ist aufgefordert, die Kompetenz zu entwickeln, negative Übertragungsgefühle von Klientinnen und Klienten zu erkennen, um so Spannungen entpersonalisieren und reduzieren zu können. Negative Übertragungsgefühle können auch dazu genutzt werden, den Klienten besser zu verstehen (vgl.Hochuli Freund/Stotz 2015: 188).
5.3 Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?
Die SpiA kennt den Bewohner schon seit einem Monat und weiss, dass Fragenstellen seine Art zu kommunizieren ist.
Dies hilft der SpiA ein Stück weit, diese Art von Kommunikation einzuordnen. Es birgt aber die Gefahr, die Art von Kommunikation zu sehr zu akzeptieren und sich zu wenig abzugrenzen.
Die SpiA hat ein Jahr in der Alterspflege gearbeitet und kann bei der Körperpflege von diesen Erfahrungen profitieren. Sie hat schon mehrfach eine Nassrasur durchgeführt, auch bei Patienten, die eine stärkere Hemiplegie haben und die eine Gesichtshälfte infolge dessen ausgeprägter gelähmt war.
Die SpiA hat schon viele Male Menschen bei der Köperpflege unterstützt und ist sich den Umgang mit dieser Art von körperlicher Nähe gewohnt. Sie hat schon Menschen gepflegt, die verwahrlost ins Spital eingetreten sind oder sehr schwer krank waren. Die SpiA hat sich deshalb schon mit dem Umgang mit Ekel beschäftigt und kann meistens gut damit umgehen.
Dieses Erfahrungswissen hilft in dieser Situation ruhig und routiniert zu arbeiten und Selbstbewusstsein auszustrahlen. Dies vermittelt dem Bewohner, dass er der SpiA vertrauen kann und er keine Verletzung befürchten muss.
5.4 Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?
Das Leitbild der Organisation ist, Bewohnerinnen und Bewohner zu achten, sie herausragend zu betreuen, zu pflegen und zu fördern.
Die Einzigartigkeit der Bewohner wird geachtet und es wird Wert auf die Selbstbestimmung gelegt.
Leitgedanke des Betreuten Wohnens ist, sich an den Ressourcen der Bewohnerinnen und Bewohner zu orientieren, damit diese selbstbestimmt und verantwortungsbewusst ihren individuellen Weg finden können. Es werden Freiräume geschaffen für eine Kultur, in der eine konstruktive persönliche Entwicklung möglich ist.
Dieses Wissen ist für die SpiA handlungsleitend. Herausragend zu pflegen bedeutet für sie, dass die Bewohner unterstützt werden, ein adäquates äusseres Erscheinungsbild zu haben, sofern dies nicht mit ihrer Selbstbestimmung kollidiert.
Hier gerät die SpiA in ein Dilemma. Der Bewohner hat infolge seiner kognitiven Beeinträchtigung ein vermindertes Ekelgefühl, und er äussert sich nicht dazu, ob ihm Sauberkeit wichtig ist.
Die SpiA legt zudem mehr Wert auf Sauberkeit als andere Teammitglieder. Sie wertet hier den fürsorgerischen Auftrag höher. Allgemein wird in der Institution mehr Wert auf Selbstbestimmung und Autonomie gelegt, als auf Kontrolle und Fürsorge.
Der Bewohner passt infolge seines Alterungsprozesses und des damit verbundenen körperlichen Abbaus nicht mehr ganz ins Konzept. Die Zielgruppe für das Wohnhaus sind erwachsene Frauen und Männer mit einer leichten geistigen oder körperlichen Behinderung und/oder einer psychischen Beeinträchtigung.
5.5 Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?
- Körperpflege sicher und ruhig durchführen, insbesondere die Nassrasur und das Nägelschneiden
- Professioneller Umgang mit körperlicher Nähe
- reflektierter Umgang mit unangenehmen Gefühlen, wie z. B. Ekel
- Sensibilität haben für die Intimsphäre der Bewohner
- Fähigkeit zu einer professionellen Beziehungsgestaltung. Fähigkeit das Verhältnis von Nähe und Distanz situativ einzuschätzen.
- SpiA kann ihre Bedürfnisse, Grenzen wahrnehmen und kann so kongruent in der Kommunikation sein kann.
- pädagogische Authentizität
- Selbstbeobachtung
- Selbstreflexion im Moment
- Selbstdistanz gegenüber Wahrnehmungen
- Empathie
- Geduld
- Erkennen, was der Bewohner selbstständig ausführen kann, und ihn darin fördern
- Perspektivenübernahme
- Fähigkeit ein Gespräch zu klären, Metakommunikation
- Fähigkeit die eigene Gegenübertragung kontrollieren zu können
5.6 Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?
Das Betreute Wohnen ist ausgerichtet auf Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung, die keine enge Begleitung im Alltag und keine aufwändige pflegerische Betreuung brauchen. Dementsprechend ist der Personalschlüssel. Morgens arbeiten jeweils 2 Professionelle der Sozialen Arbeit (PSA)/Betreuer und begleiten 19 Bewohner. Während der Wochenenden sind einige Bewohner nicht anwesend und da keiner der Bewohner zu einer bestimmten Zeit aus dem Haus zur Arbeit muss, bleibt mehr Zeit, um Bewohner bei der Körperpflege zu begleiten. Es ist daher von Vorteil, Dinge, die nicht jeden Tag erledigt werden müssen, wie z. B. das Nägelschneiden am Samstag oder Sonntag Morgen zu erledigen. Der Bewohner aus der beschriebenen Situation ist morgens leichter zum Duschen zu motivieren als am Abend, da der Dienst aber erst um 11.00 Uhr beginnt, ist der Bewohner meist schon wach und unterwegs und im Begriff, sich anzuziehen. Es ist daher angezeigt, nach der Dienstübergabe als erstes diesen Bewohner zu begleiten.
5.7 Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?
Warum sind der SpiA die Hygiene und das gepflegte Erscheinungsbild des Bewohners so wichtig?
In dieser Situation sind Werte und Normen tangiert, die die Fürsorge und die Menschenwürde betreffen.
Berufskodex 5.6: Soziale Arbeit hat Menschen zu begleiten, zu betreuen und zu schützen und ihre Entwicklung zu fördern, zu sichern oder zu stabilisieren. (AvenirSozial 2010: 6)
Berufskodex 6.3: Auseinandersetzung mit Dilemmata und Spannungsfeldern sind unvermeidlich und notwendig, z. B. zwischen dem Beharren auf Selbstbestimmung durch die Adressatinnen und Adressaten und der Notwendigkeit der Übernahme von Schutz und Fürsorge für die Klientinnen und Klienten durch die Soziale Arbeit. AvenirSozial 2010: 7)
Ein gepflegtes Äusseres ist für die SpiA in dieser Situation eine Frage der Menschenwürde. Der Bewohner ist kognitiv nicht in der Lage, die Wichtigkeit dieses Aspektes in der Gesellschaft zu erfassen, und er kennt durch seine Einschränkung kein Scham- und kein Ekelgefühl. Daraus leitet die SpiA einen fürsorglichen Auftrag gegenüber dem Bewohner ab. Dieser kann in Konflikt mit dem Grundsatz der Selbstbestimmung kommen, weil der Bewohner die Notwendigkeit der Körperhygiene nicht nachvollziehen kann.
Hier spielen aber auch persönliche Werte der SpiA eine Rolle. Es ist wichtig, dass sie sich bewusst ist, dass nicht alle, weder Bewohner noch Mitarbeiter, die gleichen Vorstellungen von Sauberkeit und Hygiene haben. Sie hat offenbar gewisse Werte und Normen verinnerlicht, dass ihr das äussere Erscheinungsbild als so wichtig erscheint. Sie sollte sich damit auseinandersetzen, warum es ihr sehr wichtig ist, dass der Bewohner ein gepflegtes Äusseres hat.
In dieser Situation ist auch die Wahrung der Intimsphäre ein wichtiges Thema, was wiederum mit Menschenwürde und Integrität zu tun hat. Die SpiA achtet während der Körperpflege darauf, dass sie sorgfältig mit der Intimsphäre umgeht. Sie fordert den Klienten auf, einen Bademantel zu tragen, wenn er vom Zimmer ins Badezimmer läuft. Er würde es von sich aus nicht tun. Ebenfalls arbeitet die SpiA während der Rasur mit Handtuch und Bademantel und bedeckt den Bewohner angemessen.
Die SpiA kann in einen Wertekonflikt geraten, da sie die äusseren Werte, das Erscheinungsbild des Bewohners, als wichtiger erachtet als andere Mitarbeiter. Die Organisation legt tendenziell mehr Wert auf die Selbstbestimmung als auf die Fürsorge und Kontrolle. Die Wohnphilosophie der Institution besagt, dass die Einzigartigkeit der Bewohner geachtet wird und dass Wert auf Selbstbestimmung gelegt wird.
In dieser Situation spürt die SpiA eine Selbstbetroffenheit, da der Klient persönliche Fragen stellt und sie durch eine Frage aus biografischen Gründen emotional berührt wird. In diesem Moment ist es wichtig, dass die SpiA die emotionalen Resonanzen bewusst wahrnimmt, reflektiert und fürs berufliche Handeln konstruktiv nutzbar macht. Es fragt sich, wie die SpiA mit dem Wert ihrer eigenen Person umgeht, ihre Person respektiert und zu sich selbst steht.
Berufskodex 11.1: Die Professionellen der Sozialen Arbeit respektieren stets den Wert und die Würde ihrer eigenen Person, um so auch anderen gegenüber mit demselben Respekt begegnen zu können. (AvenirSozial 2010: 11