Alltagsübergänge gestalten / Sonderschulheim

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Es handelt sich um ein Sonderschulheim, in welchem Mädchen und Jungen im Alter zwischen 5 bis maximal 17 Jahren mit kognitiven Entwicklungsbeeinträchtigungen leben. Die Institution bietet 40 Wohnplätze auf 6 Wohngruppen an. Auf einer Gruppe leben in der Regel 7 Mädchen und Jungen in unterschiedlichem Alter.

Auf der Wohngruppe, in welche die beschriebene Situation stattfindet, leben 5 Jungen und 2 Mädchen zwischen 12 bis 17 Jahren. 5 von ihnen haben ein ausgeprägtes ADHS.

Eine halbe Stunde bevor die Kinder und Jugendlichen am Abend Schlafengehen, haben sie Zimmerzeit, in welcher sie zu Ruhe finden sollen. Die Zimmerzeiten und das Lichterlöschen sind individuell auf das Alter und die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen angepasst. Spätestens um 22h ist bei allen Lichterlöschen.

Die Situation beschreibt die 13-jährige Jugendliche A, welche ein starkes ADHS hat und ein kontrollierendes Verhalten aufzeigt. Das kontrollierende Verhalten äussert sich vor allem durch häufiges am Türrahmen des eigenen Zimmer stehen und andere Kinder beobachten oder teilweise zuerrechtweisen. Auch sucht sie starkt die Nähe zum Mitarbeiter, indem sie diverse Bedürfnisse äussert wie z.B. Trinken oder auf die Toilettte gehen zu müssen oder plötzlich auftrenden Kopf- und Kniesschmerzen, welche vom Mitarbeiter betrachtet werden müssen. 

Ihre Zimmerzeit ist um 20.30h und um 21h Lichterlöschen. In die Situation ist A und eine Sozialpädagogin involviert.

Erste Sequenz: Handyabgabe

A. geht um 20.30h mit ihrem Handy ins Zimmer. Um 20.50h kommt sie zur Sozialpädagogin ins Büro um es abzugeben und gleichzeitig aufzuladen. Währendem die Sozialpädagogin Journaleinträge schreibt, bleibt A am Handy und schreibt weiter Sms. Die Sozialpädagogin weist A daraufhin nun das Handy abzuschalten und ins Zimmer zu gehen und sagt ihr, dass sie um 21h bei ihr vorbeikommen wird um ihr eine gute Nacht zu wünschen. Nach einigen Minuten Herauszögerung geht A ins Zimmer und lehnt ihre Türe an.

Reflection in Action

Emotion Klient/in: So doof, ich wollte noch die neuste Instagramstory von XY checken. Vielleicht merkt sie es ja nicht, wenn ich noch am Handy bin. Sie scheint sehr vertieft in die Einträge.

Emotion Professionelle/r: Ich möchte die Einträge alle geschrieben haben, bevor alle Handys abgeben werden. Ich bin richtig müde und A zögert wieder unnötig die Zeit am Handy hinaus. Immer muss ich sie darauf hinweisen.

Kognition Professionelle/r: Es ist wichtig, dass die Einträge des heutigen Tages alle erledigt sind, sodass die Mitarbeitenden, die morgen kommen auf dem neusten Stand sind. Es gibt einiges zu schreiben bei 7 Kindern und Jugendlichen. A fällt es sichtlich schwer sich vom Handy zu lösen. Es ist auch schwierig, wenn man das Handy abgeben muss und nicht selbst entscheiden darf, wann genug ist.

Zweite Sequenz: Verabschiedung

Um 21h geht die Sozialpädagogin ins Zimmer. A ist noch nicht im Bett, sondern an ihrem Schreibtisch am Malen. Die Sozialpädagogin fordert sie auf nun ins Bett zu gehen, da Schlafenszeit ist. A geht nicht auf das Gesagte ein und erzählt von ihrem Tag. Die Sozialpädagogin lässt sich darauf ein und spricht mit ihr ca. 10 Minuten, umarmt A danach und wünscht ihr eine gute Nacht. Die Sozialpädagogin geht zurück ins Büro und schreibt weiter an den Journaleinträgen.

Reflection in Action

Emotion Klient/in: Ich bin gar noch nicht müde. Dieser Typ auf Instagram ist ja so süss, am liebsten würde ich ihm weiter folgen. Auch wollte ich Z noch gute Nacht schreiben, das kann ich nun auch nicht mehr und auf Youtube postet Z jetzt sein neustes Video und ich seh’s nicht. Toll.

Emotion Professionelle/r: Ich bin müde und möchte ins Bett. Hoffentlich schläft A bald und hält mich nicht wieder auf Trab.

Kognition Professionelle/r: Da A an ihrem Handy war, kann es sein, dass sie noch einige Sachen beschäftigen. Es ist wichtig, dass ich mit ihr den Tag nochmals kurz Revue passieren lasse, sodass sie zu Ruhe kommen kann.

Dritte Sequenz: erneute Kontaktaufnahme

Um 21.15h klopft es an der Bürotüre, wo A wieder steht. Sie äussert Kopfschmerzen und könne deswegen nicht schlafen. Die Sozialpädagogin sagt ihr, dass sie etwas Wasser trinken und danach nochmals probieren solle zu schlafen. Um 21.30h holt sich die Sozialpädagogin die Handys der Jugendlichen B und C. Auf dem Rückweg ins Büro steht A am Türrahmen ihres Zimmers und äussert Knieschmerzen. Die Sozialpädagogin gibt ihr eine Salbe und verabschiedet sich.

Um 22h geht die Sozialpädagogin die Handys von D und  E holen. Auf ihrem Rückweg begegnet sie A, welche nun zur Toilette muss. A möchte ein Gespräch starten, doch die Sozialpädagogin winkt ab und wünscht ihr eine gute Nacht. Um 22h schliesst die Sozialpädagogin die Bürotüre, denn sie möchte sich Bettfertig machen.

Reflection in Action

Emotion Klient/in: Ich kann nicht schlafen. Mir gehen so viele Sachen durch den Kopf. Ich will wissen, ob B und C schon schlafen. Ah, um 22h geht die Sozialpädagogin das Handy von D und E holen, vielleicht läuft noch was im Gang, ich will es auch sehen. Ist sie pünktlich? Wenn nicht, vielleicht sollte ich an die Bürotüre klopfen und sie darauf hinweisen, dass sie die Handys holen muss.  

Emotion Professionelle/r: Es macht mich richtig sauer, dass ich mich nicht um die anderen Jugendlichen kümmern kann und mich A auf Schritt und Tritt verfolgt. Ich bin müde und hab mich um sie gekümmert, jetzt will ich meine Ruhe.

Kognition Professionelle/r: A hat ein ADHS, es fällt ihr schwer abzuschalten. Ein empathisches aber konsequentes Verhalten meinerseits hilft ihr.

Vierte Sequenz: Einleitung der Ruhephase 

Um 22.30h klopft es an der Bürotüre. A steht davor und sagt, dass sie nicht schlafen könne, aber sie werde Musikhören und Lesen, vielleicht könne sie dann schlafen. Die Sozialpädagogin stimmt A zu und schliesst die Bürotüre.

Reflection in Action

Emotion Klient/in: Ich will schauen, ob überall alles ruhig ist und ob du auch schlafen gehst.

Emotion Professionelle/r: Ich bin erschöpft aber froh, denn A sieht, dass ich nun im Pyjama bin und gerne schlafen möchte.

Kognition Professionelle/r: Es gibt ihr Sicherheit, wenn sie weiss, dass nun alle Schlafen und ich mich auch ins Bett lege. So kann auch sie zu Ruhe kommen, da sie keine Angst mehr haben muss etwas zu verpassen.

5.1      Erklärungswissen – Warum handeln die Personen in der Situation so?

Wieso sucht A immer wieder den Kontakt zur Sozialpädagogin?

Übergangssituation: Wie in den Situationsmerkmalen beschrieben handelt es sich hier um eine Übergangssituation. Übergangssituationen können bei Kindern starke Emotionen wie beispielsweise Vorfreude und Neugier auslösen. Diese sind aber unmittelbar mit Gefühlen wie Verlust und Abschiednehmen verbunden. Dies wiederum kann Stress bei den Kindern auslösen. In der beschriebenen Schlüsselsituation könnte es sich um eine „Trennungserfahrung“ handeln. Solche Erfahrungen sind für die Entwicklung des Kindes zur Selbstständigkeit zentral. Dadurch, dass die Eltern weggehen aber garantiert immer wieder kommen, verliert das Kind die Angst verlassen zu werden. Das Kind gewinnt an Selbstvertrauen und das Vertrauen zu den Eltern wird gestärkt (vgl. Pro Juventute, April 2018, o.S.). Im genannten Fallbeispiel zeigt sich dies insofern, dass A immer wieder den Kontakt zur Sozialpädagogin sucht um sich zu vergewissern, dass sie wirklich nicht weggeht. Auch weil die Sozialpädagogin auf A eingeht und sie ernstnimmt, verschafft sie A eine gewisse Absicherung. Dies stärkt auch ihre gemeinsame Bindung. Aufgrund dessen, dass jeder Abend durch einen anderen Mitarbeiter abgedeckt wird, benötigt sie diese Rückversicherung immer wieder aufs Neue. Die Trennungsängste gehören aber zur gesunden Entwicklung eines Kindes und verschwinden mit der Zeit durch positiv erlebte Erfahrungen. Es zeigt sich nämlich, dass die häufige Kontaktaufnahme bei gewissen Mitarbeitenden stärker, bei gewissen weniger ist.

Weshalb fällt es A am Abend schwer zur Ruhe zu finden?

Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erikson:  Gemäss dem allgemeinen Verhalten von A., insbesondere in Situationen des Überganges zum Schlafen, zeigt sich, dass A. möglicherweise das Stadium 1 des Stufenmodells “Ur-Vertrauen vs. Ur-Misstrauen” noch nicht erfolgreich überwunden hat. In dieser Stufe ist das Kind auf die Verlässlichkeit der Bezugsperson angewiesen und entwickelt Bedrohungsgefühle und Ängste, wenn die Forderungen nach körperlicher Nähe, Sicherheit, Geborgenheit etc. nicht befriedigt wird. Es besteht die Angst, die Umwelt nicht beeinflussen zu können und ihr hilflos ausgeliefert zu sein (vgl. Erziehungswissen 2018: o.S.) Aufgrund des Hintergrundwissens, dass A.s Mutter seit Jahren mit depressiven Episoden zu kämpfen hat und stark mit sich selbst beschäftigt ist, besteht die Möglichkeit, dass A. dieses Urvertrauen als Kleinkind nicht aufbauen konnte.

Pubertät: A befindet sich biologisch in der Pubertät. In der Pubertät schüttert der Körper das Schlafhormon Melatonin immer später aus, weshalb sich der Bio- und damit der Schlaf-Wach-Rhythmus der Jugendlichen verändert. Während Kinder oft schon um acht oder neun Uhr müde genug sind um einzuschlafen, springt bei Jugendlichen das Einschlafsystem Abends jedoch noch gar nicht an, sodass es ihnen oft schwer fällt vor elf oder zwölf Uhr einzuschlafen, obwohl der Körper aufgrund der körperlichen Veränderungen (z.B. eines Wachstumsschubs) eigentlich mehr Schlaf benötigt (vgl. Crone 2011: 28).

ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung): Nebst Problemen der Aufmerksamkeit, Impulsivität und der Selbstregulation kommen bei Menschen, die an einem ADHS leiden häufig körperliche Unruhe hinzu. Diese Unruhe am Abend macht es dem Betroffenen besonders schwer einzuschlafen. Bei A kommt weiter hinzu, dass sie um 21h zwar Lichterlöschen hat und somit Schlafenszeit aber im Gang viele Reize sind, die sie trotz fast geschlossener Türe nicht ausblenden kann. So kommt es immer wieder vor, dass ein Jugendlicher im Gang laut spricht oder Musik hört, die Sozialpädagogin ihn um Ruhe bittet, was alles von A aufgenommen wird. Bei 6 anderen Mitmenschen ist ein höherer Lärmpegel, auch wenn er noch so gering wie möglich gehalten wird, unumgänglich. Die leichte Ablenkbarkeit durch innere und äussere Reize ist ein typisches Merkmal eines ADHS. (vgl. Brandau 2004: 16).

Was hilft A dass sie zur Ruhe finden kann?

Rituale: Rituale sind sozial gestaltete Aktionen zu alltäglichen Anlässen und regeln das Miteinander. Sie bestimmen etwa den Tagesbeginn, das Zubettgehen, das Essen, die Körperpflege etc. Handlungen, die regelmässig wiederholt werden schenken Halt, Geborgenheit und Struktur. Vor allem Kinder lieben und benötigen Wiederholungen. Dies ist auch der Grund, weshalb sie es lieben, immer und immer wieder die gleichen Gutenachtgeschichten vorgelesen zu bekommen oder gebaute Türme aus Klötzen zu zerstören um sie dann sofort wieder aufzubauen. Insbesondere bei Kindern mit einem ADHS schaffen Rituale klare Grenzen und Strukturen und entschleunigen so die innere Getriebenheit. Im Fallbeispiel von A handelt es sich um ein Zubettgehritual, welches unter 5.2 näher beschrieben wird.

 

5.2      Interventionswissen – Wie kann ich als professionelle Fachperson handeln?

Welche persönliche Haltung ist hilfreich um die Situation mit A erfolgreich zu bewältigen?

Personenzentierter Ansatz: Die Sozilapädagogin arbeitet nach dem personenzentrierten Ansatz nach Carl Rogers. Die Grundsteine dieses Ansatzes sind die Echtheit (Kongruenz), Wertschätzung (Akzeptanz) und das Einfühlungsvermögen (Empathie). Kongruenz nach Rogers meint, dass die Professionellen authenisch sind, wissen wer sie sind bzw. was sie für eine Rolle haben und einen offenen Umgang mit den eigenen Gefühlen und Einstellungen pflegen. Akzeptanz meint, dass die Sozialpädogen den Klienten bzw. die Klientin in der Arbeit so annehmen, wie er oder sie ist, ohne Vorurteile oder Wertung. Das Gegenüber wird als eigenständige Person geachtet, unabhängig ihres augenblicklichen Verhaltens. Bei der Empathie geht es darum, dass versucht wird, die Welt durch die Augen des Klienten bzw. der Klientin zu sehen und so ein einfühlendes und nicht wertendes Verstehen zu entwickeln (vgl. McLeod 2014: 135). In Bezug auf die Fallsituation mit A zeigt sich, dass die Sozialpädagogin A gegenüber eine offene Grundhaltung hat. Sie hat Verständnis dafür, dass A mehrmals das Zimmer verlässt um den Kontakt zu ihr zu suchen. Dies zeigt auch, dass die Beziehung zwischen den beiden gut ist und A Vertrauen in die Sozialpädagogin hat. Die Sozialpädagogin lässt sich auf die Gefühlswelt von A ein, dennoch strahlt sie eine klare Haltung aus, in dem sie sich nicht in Gespräche verwickeln lässt. A weiss woran sie ist und erhält dadurch auch einen klaren Rahmen und Struktur. 

Was hilft A um in der Zimmerzeit zur Ruhe zu finden?

Zubettgehritual: Wie bereits unter 5.1. erwähnt sind Rituale für Kinder von enormer Bedeutung. Im Fall von A schätzt sie ein Zubettgehritual. Dieses ist bei jedem Mitarbeitenden anders und hängt stark von der Beziehung ab. Mit der Sozialpädagogin im Beispiel lässt sie gern den Tag Révue passieren. Dieses Ritual eignet sich gut um Ereignisse oder Gedanken, welche das Kind oder der Jugendliche im Laufe des Tages beschäftigt haben, nochmals zu besprechen. Zudem verschaffen solche Momente den Erwachsenen einen Einblick in die Erlebniswelt des Kindes bzw. des Jugendlichen (vgl. Baby Center 2018).

 

5.3      Erfahrungswissen – Woran erinnere ich mich, was kenne ich aus ähnlichen Situationen?

Für A. ist es wichtig, dass sie sich rückversichern kann, dass alles seinen gewohnten Rhythmus hat und die Sozialpädagogin hier ist, falls irgendetwas ist. Dies haben auch andere Kinder auf unserer Gruppe. Es reicht, dass das Kind kurz die Aufmerksamkeit erhält und es ernstgenommen wird, man sich aber nicht in Gespräche verwickeln lässt. Werden neue Themen geschaffen, kann es sein, dass das Kind dadurch wieder emotional aufdreht und sich nicht auf das eigentliche Thema Schlafen fokussieren kann. Beispiel: Wäre die Sozialpädagogin bei der Äusserung von As Knieschmerzen zu fest darauf eingegangen (Fragen nach dem Grund der Schermzen, wie lange diese bereits bestehen etc.) hätte sie sich automatisch in ein längeres Gespräch verwickeln lassen, den Blick auf das Zubettgehen wäre wieder in weite Ferne gerückt. 

Aufgrund meiner täglichen Arbeit mit überwiegend Kindern und Jugendlichen mit einem ADHS ist ein Verständnis vorhanden, dass es für sie schwieriger ist zur Ruhe zu finden. Wenn ich selbst ruhig bleibe und klare Strukturen vorgebe, so vermittle ich meinem Gegenüber Sicherheit und Klarheit. 

 

5.4      Organisations- und Kontextwissen – Welche Rahmenbedingungen beeinflussen mein Handeln?

Die Arbeit im folgenden Sonderschulheim ist geprägt durch eine familienähnliche Gestaltung des täglichen Lebens und vermittelt den Kindern und Jugendlichen Wohlbefinden und Sicherheit. Es ist für diese daher wichtig, dass sie in ihrer Persönlichkeit ernstgenommen und wertgeschätzt werden. Für die Mitarbeitenden der Institution ist es zentral zu den Kindern und Jugendlichen tragfähige und verlässliche Beziehungen aufzubauen, denn nur so ist eine positive Entwicklung möglich. Es ist den Mitarbeitenden bewusst, dass ihre Haltungen und ihr Handeln das Verhalten der Kinder und Jugendlichen beeinflussen, weswegen sie als gutes Vorbild voran gehen müssen.

Es ist für die Sozialpädagogin daher logisch, dass sie die kleine Aufmerksamkeit von A nicht abwertet sondern ernstnimmt. Als Vertreterin eines Sonderschulheims ist es für die Sozialpädadgogin aber auch von grosser Bedeutung, ihren erzieherischen Aufgaben nachzugehen und konsequent Gruppenregeln durchzusetzen. Viele der Kinder und Jugendlichen, welche im Wohnheim leben, haben diese Strukturen aus ihrem Elternhaus nicht oder zu wenig erfahren.

 

5.5      Fähigkeiten – Was muss ich als professionelle Fachperson können?

Empathiefähigkeit: Dies bedeutet, dass die Sozialpädagogin die Fähigkeit und die Bereitschaft hat, die Gefühle, Gedanken und Persönlichkeitsmerkmale von A zu erkennen und zu verstehen und angemessen auf die Bedürfnisse eingehen kann.

Fähigkeit zur (kritischen) Reflexion: In der Situation mit A ist es wichtig, dass die Sozialpädagogin ihr Handeln kritisch hinterfragt und daraufhin prüft ob ihre gestellte Anforderung an A verhältnismässig war, schliesslich ist sie insgesamt 3x aus dem Zimmer gekommen. Hätte die Sozialpädagogin anders reagieren müssen, oder war dies gut? Ein Abwägen der Situation ist sehr wichtig. Nur durch eine konsequente Reflexion von Situationen können Lernprozesse initiiert werden und die Arbeit wird dadurch professionalisiert.

Kommunikationsfähigkeit: Dies bedeutet, dass die Sozialpädagogin fähig ist, Botschaften von z.B. A richtig zu interpretieren. Dazu gehört gutes Zuhören sowie Signale wie Mimik, Gestik und Körperhaltung korrekt zu entschlüsseln und entsprechend darauf reagieren zu können.

Kooperationsbereitschaft: Diese Fähigkeit ist zentral, wenn eine produktive Zusammenarbeit mit anderen Menschen angestrebt wird. Es handelt ich um die Bereitschaft die eigenen Bedürfnisse mit den Bedürfnissen von anderen abzustimmen. Das heisst, dass eine tragfähige Beziehung zwischen der Sozialpädagogin und A nur dann stattfindet, wenn sich die Sozialpädagogin auf der zwischenmenschlichen Ebene auf die persönlichen Bedürfnisse von A auch einlassen kann. Sie hätte A beim wiederholten rauskommen aus dem Zimmer auch anschreien oder Strafen können, weil die Sozialpädagogin müde war und nicht mehr diskutieren wollte. Dies tat sie aber bewusst nicht, weil sie wusste, dass es für As Verhalten einen guten Grund gibt und es für die Beziehungsgestaltung in dieser Situation nicht förderlich gewesen wäre so unangemessen zu reagieren.

 

5.6      Organisationale, infrastrukturelle, zeitliche, materielle Voraussetzungen – Womit kann ich handeln?

Auf unserer Gruppe leben 7 Jugendliche zwischen 12 bis 17 Jahren. Die Jugendlichen haben anhand ihrer Alters und ihrer emotionalen Entwicklung unterschiedliche Bettgehzeiten. Um 22h gilt jedoch für alle Lichterlöschen. Alle Jugendlichen haben ein Einzelzimmer und haben so die Möglichkeit besser zu Ruhe zu finden. Bis um 21h arbeiten in der Regel 3 Mitarbeitende. Diese teilen sich dann unterschiedliche Aufgaben, wie beispielsweise Küche reinigen, Wäsche für die Lingerie am Folgetag bereitlegen oder Tagesjournaleinträge schreiben. Dies bedeutet, dass 1 Person die zeitliche Kapazität aufbringen kann bewusst auf die Kinder und Jugendlichen zu achten und sich Zeit für sie zu nehmen und beispielsweise Zubettgehrituale durchzuführen. 

 

5.7      Wertewissen – Woraufhin richte ich mein Handeln aus? Welches sind die zentralen Werte in dieser Situation, die ich als handelnde Fachperson berücksichtigen will?

Ich orientiere mich am Berufskodex der Sozialen Arbeit. Dabei sind mir folgende Punkte vor allem wichtig:

“Soziale Arbeit hat Menschen zu begleiten, zu betreuen oder zu schützen und ihre Entwicklung zu fördern, zu sichern oder zu stabilisieren” (Avenir Social: S. 6)

“Soziale Arbeit hat Veränderungen zu fördern, die Menschen unabhängiger werden zu lassen auch von der Sozialen Arbeit” (Avenir Social: S. 6)

 “Die Professionellen der Sozialen Arbeit achten bei aller beruflichen Routine darauf, durch reflektierte und zugleich kontrollierte empathische Zuwendung die Persönlichkeit und Not des oder der Anderen wahrzunehmen und sich gleichwohl gebührend abzugrenzen” (Avenir Social: S. 12)

Im weiteren orientiere ich mich am Leibild der Institution, welche den obenstehenden Punkten sehr ähnlich sind. 

  •  „Es wird auf die individuellen Bedürfnisse der Klientin eingegangen“ – Das erste Mal zeigt sich dieses Verhalten, als die Sozialpädagogin A aufforderte ins Bett zu gehen und diese nicht auf das Gesagte einging, sondern von ihrem Tag zu erzählen begann. Die Sozialpädagogin erkannte As Bedürfnis sich mitzuteilen und hörte ihr aufmerksam zu. In der nächsten Situation klopfte A an die Türe und äusserte Kopfschmerzen. Die Sozialpädagogin nahm sie ernst, ohne die Kopfschmerzen zu sehr ins Zentrum zu stellen, aber sie wertete sie auch nicht ab. Auch beim Äussern von Knieschmerzen ging sie auf A ein und gab ihr eine Salbe.
  • „Durch Aufmerksamkeit und Empathie wird die Beziehung zur Klientin gestärkt, sodass das Vertrauen erhalten bleibt.“ – Die Beziehung zu A wird nicht nur gestärkt, weil die Sozialpädagogin auf die Bedürfnisse von A eingeht, sondern weil sie in einen feinfühligen Kontakt zu ihr tritt. Dies spürt A und weiss, dass die Sozialpädagogin sie mag.
  • „Die Sozialpädagogin kann ihre Emotionen kontrollieren, Rollendistanz kann eingehalten werden.“ – Es zeigt sich in der „Reflektion in Action“, dass die Sozialpädagogin von ihrem Arbeitstag sehr müde ist und gerne schlafen gehen möchte. Verstärkend kommt hinzu, dass aufgrund des mehrfachen Erscheinens von A bei der Sozialpädagogin langsam eine innerliche Wut aufsteigt, weil sie das Gefühl hat, sie kann den anderen Kindern nicht gerecht werden. Sie bleibt aber innerlich bei sich in der Rolle der Sozialpädagogin und behält so den Fokus im Blick, dass es einen Grund für As Verhalten gibt. Als Privatperson würden die inneren Gefühle wie Ungeduld und Ärger wohl stärker zum Vorschein kommen. Das könnte aber auch damit zusammenhängen, dass man sich als Privatperson schneller einmal persönlich angegriffen fühlt, auch wenn es nichts meinem zu tun hat. Als Sozialpädgogin wird eine andere Brille aufgesetzt. Der Fokus ist beim Gegenüber. Störungen oder Angriffe gegenüber der eigenen Person fallen einem dadurch einfacher.
  • „Die Sozialpädagogin gibt der Klientin Orientierung und Sicherheit in der Gestaltung der Bettgehsitution.“ – Die Sozialpädagogin zeigt sich kongruent in dem sie zwar auf A eingeht, aber ihr auch immer wieder deutlich macht, dass sie sich nicht in Gespräche verwickeln lassen möchte, sondern es Zeit ist um ins Bett zu gehen. A gibt das Orientierung und Sicherheit. Sie weiss, da ist jemand, der auf mich achtet, der aber genau weiss, was er will. Im Gesamten betrachtet ist dies wichtig für die Beziehung von der Sozialpädagogin und A. Eltern z.B. die, von ihren Kindern als zuverlässig und unterstützend erlebt werden, getrauen sich eher schwierige Situationen anzusprechen und diese zu meistern. Die führt wiederum zur Steigerung des Selbstwertgefühls.  

Aufgrund des Wissens, dass Kinder und Jugendliche mit einem ADHS Probleme haben abends zur Ruhe zu finden, ist es sicherlich nicht förderlich, dass A bis um 20.50h ihr Handy hat, wenn sie um 21h Lichterlöschen hat. Bei uns auf der Gruppe ist es so, dass die Jugendlichen ihre Handys erst beim Lichterlöschen abgeben müssen. Bislang gab es hierbei noch keine Probleme. Aufgrund dessen dass A aber Mühe hat zur Ruhe zu finden, muss sie es früher abgeben. Es ist fraglich, ob es diese 10 Minuten wirklich ausmachen. Ich könnte mir vorstellen, dass es ihr helfen könnte, dass sie ihr Handy bereits um 20.30h abgeben würde und ein Mitarbeiter mit ihr 10-15 Minuten in ihrem Zimmer den Tag reflektieren könnte. Vor den Sommerferien, bevor sie ein Handy hatte, wurde dies so gemacht. Dieses Handeln hat sich mittlerweile verwischt. Aktuell zeigt sich, dass die Mitarbeitenden um 21h “Gute Nacht” wünschen und dann ihre, ich nenne es jetzt mal böse “ihre Ruhe” haben wollen. Dabei wäre es mit 3 Mitarbeitenden durchaus möglich, dass sich jemand für max. 15 Minuten Zeit für sie nimmt und dies vor 21h. Dies bedarf natürlich aber wieder eine Änderung der Handyregelung. Dies bedeutet, dass A das Handy früher abgeben muss, was ihr aber nicht zusagen würde. Sie hat bereits eine strenge Regelung, da sie ansonsten permanent vor ihrem Handy kleben würde.  

Im weiteren erachte ich es als sinnvoll, dass mit A nochmals Bewältigungsstrategien bei Unruhe und Unsicherheit angeschaut werden. Dies würde auch eine Stärkung ihres Ichs zu gute haben, was sich positiv auf ihre Selbstwirksamkeit auswirken könnte. 

Baby Center (2018). Rituale für Zubettgehen. URL: https://www.babycenter.de/a9032/rituale-f%C3%BCrs-zubettgehen (Zugriffsdatum: 18. April 2018).

Brandau, Hannes (2004). Das ADHS Puzzle. Systemisch-evolutionäre Aspekte, Unfallrisiko und Klinische Perspektiven. Wien: Springer Verlag.

Crone, Eveline (2011). Das pubertierende GEHIRN. Wie Kinder erwachsen werden. München: Droemer Verlag.

Erziehungswissen (2018). Das Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung nach Erikson. URL: https://erziehungswissen.info/us_portfolio/das-stufenmodell-der-psychosozialen-entwicklung-nach-erikson/ (Zugriffsdatum: 11. April 2018).

McLeod, John . 2. Aufl. (2014). Counselling. Eine Einführung in die Beratung. Tübingen: DGVT.

Pro Juventue Kanton Schwyz (2018). Übergangssituationen bei Kindern. URL: http://www.projuventute-sz.ch/fileadmin/vereine/schwyz/Regionale_Angebote/erziehungsberatung/flyer_ueebergangssituation_2017.pdf (Zugriffsdatum: 3. April 2018). 

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